Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Wille und Kausalität. 
den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, daß man solche ver 
mißt zu haben sich schämt. Sogar der beschränkte Verstand, wie auch 
die groteske Häßlichkeit werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens 
sich in ihrer Begleitung kund giebt, gleichsam verklärt, umstrahlt von 
einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit 
spricht, vor der jede andere verstummen muß. Denn die Güte des 
Herzens ist eine transscendente Eigenschaft, gehört einer über dieses 
Leben hinausreichenden Ordnung der Dinge an und ist mit jeder an 
deren Vollkommenheit incommensurabel." „Was ist dagegen Witz und 
Genie? Was Bacon von Verulam?" 
Auch die moralische Selbstzufriedenheit ist ganz anderer Art als 
die intellectuellen Befriedigungen und trägt das Gefühl einer tiefen 
Beruhigung in sich, das jenen fehlt. Etwas von dieser unvergleich 
lichen Beruhigung liegt schon in dem Bewußtsein, mehr Unrecht erlitten 
als gethan zu haben, wie es König Lear ausspricht: „Ich bin ein 
Mann, an dem mehr gesündigt worden ist, als er gesündigt hat"? 
Der Wille ist das Wesen und der Charakter des Menschen, der 
Geist ist seine Begabung. Die intellectuellen Vorzüge sind Geschenke 
der Natur und der Götter: der Wille ist man, den Jntellect hat man. 
Vergleichen wir die beiden Grundvermögen mit den Centralorganen 
unseres Leibes, so ist der Jntellect mit dem Kopf identisch, der Wille 
dagegen hat zu seinem Symbol und Synonym das Herz: dieses 
«punctum saliens» des thierischen Lebens, dieses perpetuurn mobile 
des thierischen Leibes: primum vivens, ultimum moriens, wie 
Haller von ihm gesagt hat. Es giebt für Jntellect und Willen keine 
Bezeichnung, welche treffender und in allen Sprachen übereinstimmender 
wäre als diese. Das Herz als Symbol des Willens ist gleichbedeutend 
mit Gemüth, mit dem homerischen <ptXov ffrop. Wir nehmen Herz 
und Kopf in dem Sinne, welchen die lateinische Sprache durch animus 
und mens, die griechische durch und voö? ausdrückt. In diesem 
Sinne sagt Seneca vom Kaiser Claudius: «nee eor nee eaput habet». 
Wie der Kopf, soll der Jntellect kühl sein. Wie das Herz der 
Heerd der Lebenswärme, ist der Wille die Quelle der warmen Gefühle 
und Affecte, welche die Thatkraft anfeuern. So lange nur von Gründen 
die Rede ist, bleiben wir kalt; sobald aber der Wille mit seinen Inter 
essen ins Spiel kommt, wird uns warm und heiß zu Muthe. Der 
* Ebendas. S. 261-262.
	        
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