Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Wille und Causalität. 
Der Wille, an sich blind und erkenntnißlos, aber auf der Höbe 
des menschlichen Daseins in hohem Maße vorstellungsbedürftig, vor 
stellungsbegierig und durch sein Erkenntnißorgan vorstellungsfähig, will 
Vorstellungen haben und von ihnen bewegt werden. Nun ist es der 
Jntellect, der ihm allerhand Motive vorhält, vorspiegelt und ihn da 
durch in alle möglichen Stimmungen und Affecte versetzt, er bewegt 
den Willen, wie die Kindergeschichten das Gemüth der Kinder. Der 
Wille tanzt, wie der Jntellect pfeift. Hier zeigt sich eine Macht des 
Jntellects über den Willen, woraus man versucht sein könnte, den 
Primat des ersteren herzuleiten. Dies aber wäre ein falscher Schluß 
aus einer richtigen Prämisse. Es ist eine Scheinherrschaft des Jntellects. 
Um die Sache in dem eben gebrauchten Bilde treffender auszusprechen: 
der Wille läßt den Jntellect pfeifen, weil und wie es ihm behagt, weil 
und wie er gern tanzt. Die Kindergeschichten wären nie entstanden, 
wenn die Kinder sie nicht hören wollten, nicht so gern hörten. Wie 
oft sagt das Kind: „ich will eine hübsche Geschichte hören"; und wenn 
die hübsche Geschichte gar zu schrecklich wird, sagt es wohl, von Mitleid 
erfüllt: „ich will sie nicht weiter hören". Und wenn es sie doch zu 
Ende und wieder von neuem erzählt haben will, so geschieht es aus 
Vorstellungslust und Begierde. Lust und Unlust aber sind Affecte 
oder Willenszustände. 
Hätte der Jntellect den Primat, so könnte der Wille die Vor 
stellungen, die jener ihm anbietet, nicht ablehnen oder sich wählerisch 
dazu verhalten, so müßte er die Motive, die jener ihm vorgaukelt und 
einbildet, einfach annehmen, und der wohlbekannte Unterschied zwischen 
eingebildeten oder gewähnten und wirklichen Motiven wäre gar nicht 
möglich. Der Wille läßt sich gern von dem Jntellect schmeicheln und 
Motive einbilden, die weit besser und edler sind als er selbst; er liebt 
es, seine Motive im Spiegel des Jntellects heroisch, großartig, uneigen 
nützig erscheinen zu lassen, während er von Charakter furchtsam, klein- 
müthig, eigennützig ist, wie die meisten Menschen. Auch große Naturen 
sind von diesen Selbsttäuschungen nicht frei. Shakespeare läßt den 
Decius von Cäsar sagen: „Doch sag' ich ihm, daß er die Schmeichler 
haßt, bejaht er es, am meisten dann geschmeichelt". 
Die eingebildeten Motive werden stets durch die wirklichen besiegt 
und scheitern am Charakter des Menschen, d. h. am Willen. Kein 
Feigherziger wird kühn und furchtlos handeln, kein Eigennütziger edel- 
müthig. Aber es thut dem Willen wohl, sich erhabene und edle Motive
	        
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