Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Der Primat des Willens. 
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und verfälscht, als auch angetrieben, angespornt und erhöht wird, im 
klebrigen aber diese beiden Grundvermögen, was ihre Fehler und Vor 
züge betrifft, gänzlich verschieden sind. 
Alles Wollen besteht in einem Verlangen, welches positiv oder 
negativ gerichtet ist: etwas wollen und sein Gegentheil nicht wollen. 
Alle Arten des Wollens sind Variationen dieses Themas. Modificationen 
des Wollens und Nichtwollens: dieses Grundthema bleibt auf allen 
Stufen des Daseins dasselbe. Das Innewerden des Verlangens 
charakterisirt das animalische Bewußtsein. Was gewollt wird, ist 
Dasein und Wohlsein, Leben und Fortpflanzung: dieses Grundthema 
bleibt auf allen Stufen des animalischen Daseins dasselbe vom Polypen 
bis zum Menschen. Der ganze Inhalt des Willens besteht im Wechsel 
der Befriedigung und Nichtbefriedigung. 
Je mehr aber mit der Steigerung des Daseins sich die thierische 
Organisation complicirt, um so vielfacher werden die Bedürfnisse, 
mannichfaltiger die Objecte der Befriedigung, verschlungener die Wege 
zu ihrer Erreichung, vielseitiger, genauer, zusammenhängender die Vor 
stellungen, gespannter die Aufmerksamkeit: der Wille braucht und schafft 
sich den doppelten Jntellect, die menschliche Vernunfterkenutniß, womit 
ein relatives Uebergewicht des erkennenden Bewußtseins über das be 
gehrende eintritt. Je bewußter und deutlicher die Vorstellungen werden, 
um so eindrucksvoller sind ihre Wirkungen, um so stärker und 
intensiver die Affecte, die freudigen und die schmerzlichen Willens 
erregungen. 
Der Wille selbst hat keine Grade, aber je mannichfaltiger die 
Objecte seiner Befriedigung werden, und je begehrenswerther dieselben 
erscheinen, um so zahlreicher und stärker werden die Willenserregungen 
oder Affecte. Diese Erregung und Erregbarkeit des Willens sind 
graduell und durchlaufen beim Menschen die Scala von der Neigung bis 
zur Leidenschaft und vom phlegmatischen Temperament bis zum chole 
rischen. Nicht im Willen selbst, sondern in der Mannichfaltigkeit und 
den Graden der Affecte, d. h. in dem, was gewollt wird, unterscheiden 
sich die Stufen des animalischen Bewußtseins. Die Gegenstände des 
Willens sind die Motive und deren Werkstätte das Gehirn, mit dessen 
Entwicklung und Größe im Verhältniß zu der übrigen Nervenmasse 
des Leibes die Menge, Deutlichkeit und Stärke der Vorstellungen 
gleichen Schritt halten, vom Thiere zum Menschen und vom Dumm 
kopf bis zum Genie.
	        
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