Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Wille und Kausalität, 
und interessanter, aber dunkelgebliebener oder nicht genug erhellter 
Thatsachen zu erleuchten und durch dieselben das eigene Grunddogma 
zu erläutern, schrieb Schopenhauer in den Ergänzungen zu seinem Haupt 
werk das Capitel über den „Primat des Willens im Selbstbewußtsein", 
eine seiner vorzüglichsten und lehrreichsten Abhandlungen. Er durfte 
mit Recht sagen, daß hier mehr für die Kenntniß des inneren Menschen 
gethan sei, als „in vielen systematischen Psychologieen"? 
Der Wille verhält sich zum Jntellect, sagt Schopenhauer, indem er 
sowohl metaphysische als auch bildliche Ausdrücke braucht, wie die Sub 
stanz zum Accidens, wie die Materie zur Form, wie die Wärme zum 
Licht, die vibrirende Saite zum Resonanzboden, die Wurzel des Baumes 
zu seiner Krone. Die Vergleichung des Willens mit den Vibrationen 
der Saite, des Jntellects mit dem Resonanzboden ist eine sehr glückliche. 
Bevor der Jntellect aus der leiblichen Organisation hervorgeht, wirkt 
der Wille blind und erkenntnißlos. Jetzt erscheint ein Medium, welches 
ihn nicht durchläßt, sondern reflectirt und zurückwirft, wie der Spiegel die 
Wellen des Lichts und der Resonanzboden die des Schalls. So entsteht 
das Bild, der Ton. Dieses Bild, dieser Ton in Ansehung des Willens 
ist das Bewußtsein. Das Bewußtsein ist der erkannte, abgespiegelte, 
lautgewordene Wille. Daher verhält sich der Wille zum Jntellect, 
wie das Wesen zum Bilde, das Urbild zum Abbild, der Protothpos 
zum Ektypos. 
Nun giebt es aber viele Fälle, in denen, wie es scheint, sich dieses 
Verhältniß umkehrt, der Jntellect vorbildlich auftritt und der Wille 
nachbildlich handelt, indem er der Stimme der Vernunft gehorcht, aus 
führt, was diese vorschreibt, thut, was sie gebietet. Ist ein solches 
Verhältniß nicht die Herrschaft des Jntellects? Kein bewußter Willens 
act ohne Motive, keine Motive ohne Erkenntniß! Hier erheben sich Ein 
würfe wider den Primat des Willens, die zu beseitigen sind. 
Es soll gezeigt werden, wie Schopenhauer in der Ausführung 
seiner zwölf Punkte es zu wiederholten malen hervorhebt, daß der 
Jntellect nichts anderes ist, als „das Werkzeug des Willens", welches dieser 
auf der Stufe seines thierisch-menschlichen Daseins sich schafft und seinen 
Bedürfnissen gemäß vervollkommnet; daß durch die Macht und den Ein 
fluß des Willens die intellectuelle Thätigkeit sowohl gehemmt, gehindert 
* Darüber zu vgl. Die Welt als Wille u. s. f. I. § 19. S. 123-176 und II. 
Cap. XIX. S. 224 —276: Der Primat des Willens im Selbstbewußtsein,
	        
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