Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Der Wille in der Natur. 
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gedehnt und verdünnt werden, da zwischen ihnen sich eine Flughaut aus 
spannen will, größer als der Leib des ganzen Thieres. Dagegen in 
dem Skelet des Krokodils, das im Schlamme kriechen will, wie in 
dem des Seehunds, der sich auf dem Boden lagern will, bedürfen 
die Armknochen einer außerordentlichen Verkürzung? 
3. Der Jntellect. 
Die Pflanze wurzelt im Erdreich und wird von den Stoffen er 
nährt, die sie umgeben; das Thier dagegen muß seine Nahrung suchen 
und zu diesem Zweck die Dinge außer ihm wahrnehmen: es bedarf 
des Jntellects zum Wegweiser und Führer, weshalb die Alten ihn das 
genannt haben. Zu dem Lebenwollen auf thierische Art 
gehört das Erkennenwollen, das sich ein Erkenntnißorgan, ein Sen- 
sorium, das Gehirn mit den dazugehörigen Sinneswerkzeugen schafft, 
wodurch die Außenwelt wahrgenommen wird, und der sensible, thierische 
Leib nunmehr als ein vorstellendes und erkennendes Subject auftritt. 
Jetzt wird der Wille durch Motive, d. h. wahrgenommene Objecte be 
stimmt, durch solche, die mit seiner Lebens- und Nahrungsweise un 
mittelbar zusammenhängen, die ihm zum Nutzen oder Schaden ge 
reichen, zu seiner Erhaltung oder Zerstörung dienen. Nun ist der 
Wille nicht mehr blind, sondern von der Erkenntniß beleuchtet, auf der 
niedrigsten Stufe des thierischen Daseins in der allerspärlichsten Weise, 
so daß im Erleuchtungskreise des Jntellects nichts anderes vor sich 
geht, als hungern, die Beute spüren, erschnappen und verschlingen. 
Der Wille zum thierischen Leben verlangt die Erhaltung des In 
dividuums und der Gattung: das sind die beiden Themata, die das 
thierische Dasein erfüllen. Je complicirter, gewagter, schwieriger die 
Ausführung dieser Zwecke ist, um so mehr Hülfe hat der Jntellect zu 
leisten, um so mehr erweitert sich sein Vorstellungskreis und erhöht sich 
die Stufe seiner Entwicklung: daher die Intelligenz der Raubthiere, 
welche Jäger und Krieger sind. Mit der Lebensdauer wächst die Summe 
der thierischen wie der menschlichen Erfahrung: daher die Klugheit der 
langlebigen Elephanten und Affen. Je geringer die Fortpflanzung ist, 
um so schwieriger die Erhaltung der Gattung, um so sorgfältiger will 
die Brut bewahrt werden, dazu bedarf es der Klugheit des Jntellects; 
daher die Verminderung der Prolification und die Vermehrung der 
Intelligenz zusammengehen. 
1 Ueber den Willen in der Natur. Vergleichende Anatomie. S. 45—48. 
S. 52—54.
	        
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