Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Von der Erkenntnißlehre zur Metaphysik. 241 
Die Physik ist außer Stande das Welträthsel zu lösen; sie hat 
es mit den Zuständen und Veränderungen der Materie zu thun, diese 
sind Wirkungen, deren Ursachen die Wirkungen anderer vorhergehender 
Ursachen sind, und so fort ins Endlose. Die physikalischen Causal- 
reihen, ohne Anfang und Ende, wie sie sind, führen zu keinem Ziel; 
die Beschaffenheiten der Körper sind Wirkungsarten, die auf Gesetze 
zurückgeführt werden, diese auf Kräfte, diese auf Grundkräfte, womit 
die Physik zu Ende ist und vor ihrer unüberschreitbaren Grenze steht. 
Ihre Kräfte, Wirkungsarten, Beschaffenheiten u. s. w. sind unerklärte, 
unerklärliche, geheime Dinge, lauter qualitates occultae! Die Kraft, 
vermöge deren ein Stein stößt, drückt und fällt, ist ebenso geheimniß 
voll und unerklärlich, wie die Kraft, vermöge deren der Magen ver 
daut und das Gehirn denkt. Will man die letztere hypostasiren und 
eine Seele fingiren, die sie besitzt und ausübt, so schreibe man auch 
dem Magen eine Seele zu, welche verdaut, und dem Stein eine, welche 
drückt und stößt, u. s. s. 
Uebrigens ist es sehr begreiflich, daß unser Jntellect die physischen 
Erscheinungen für die alleinige und absolute Ordnung der Dinge an 
sieht, denn er ist von Natur bestimmt, Nahrung zu suchen, Lebens 
mittel aufzufinden und wahrzunehmen, mit einem Wort die physischen 
Bedürfnisse des Daseins zu befriedigen; keineswegs aber ist er gemacht, 
die Räthsel des Daseins zu lösen. Er ist ein geborner Naturalist 
und Materialist: deshalb haben ihn auch die Mystiker „das Licht der 
Natur" genannt, als in welchem keine andere Ordnung der Dinge er 
scheinen und einleuchten kann als die physische und materielle. 
3. Wäre diese wirklich die alleinige Ordnung der Dinge, so könnte 
von einer Moral und deren Begründung nicht die Rede sein: daher 
der genaue Zusammenhang der Ethik mit der Metaphysik, in der sie 
wurzelt, und mit ihr alle Sitten- und Religionslehre. Um den Glauben 
an eine höhere Ordnung der Dinge als die physische und materielle, 
in der kürzesten und umfassendsten Formel auszusprechen, könnte man 
sagen: „Ich glaube an eine Metaphysik". 
Die beiden Arten dieses Glaubens sind die Religion und die 
Philosophie: jene gründet sich auf den Glauben an übernatürliche 
Offenbarungen, diese dagegen auf die menschliche Selbsterkenntniß; die 
religiöse Metaphysik ist „Glaubenslehre", die philosophische dagegen 
„Ueberzeugungslehre", woraus schon erhellt, daß die erste, da sie leicht 
und ohne Mühe zu haben ist, die großen Massen der Menschheit be- 
Fischer, G-sch. d. Nhilos. IX. 2. AM. N. A. 16
	        
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