Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Propädeutik. 
Zeit und Raum bestehen aus lauter gleichartigen, mit einander 
verknüpften Theilen; die Theile des Raums sind bestimmt durch ihre 
Lage, die der Zeit durch ihre Folge. In der Zeit ist jeder Moment 
durch alle vorhergehenden bedingt, die abgelaufen sein müssen, bevor 
er eintritt: im Raum ist jede Figur durch ihre Lage und Grenzen be 
stimmt, wodurch sie mit einer anderen zusammenhängt, welche wieder 
durch eine andere begrenzt ist, mit der sie zusammenhängt, und so fort 
nach allen Richtungen ins Endlose. 
Alle in dem Nexus der Lage und in dem der Folge enthaltenen 
Verhältnisse werden oder gestalten sich nicht erst mit der Zeit, sondern 
sind und bleiben, wie sie sind, für alle Zeit. Daher gilt von den 
mathematischen Wahrheiten, daß sie weder entstehen noch vergehen. 
Aus dieser Erwägung bezeichnet Schopenhauer die Verhältnisse in 
Zeit und Raum, den Nexus der Folge und den der Lage, worin die 
mathematischen Wahrheiten ihren Bestand haben, als den „Grund 
des Seins". 
2. Arithmetik und Geometrie. 
Die Folge der Zeittheile von Schritt zu Schritt werden vor 
gestellt, indem sie gezählt werden; alles Rechnen ist ein methodisch ab 
gekürztes Zählen: darauf gründet sich die Arithmetik. Die Wahr 
heiten der Geometrie, wenn sie aus dem Wesen des Raums und seiner 
Größen nicht unmittelbar einleuchten, d. h. Axiome sind, werden durch 
eine schlußgerechte Ordnung von Sätzen demonstrirt, d. h. logisch be 
wiesen, während doch der Grund, aus dem sie folgen, nicht der des 
Erkennens, sondern der des Seins ist. 
Daher fordert Schopenhauer die Anschaulichkeit der geometrischen 
Beweise und sucht dieser Forderung gemäß einige Sätze vom ebenen 
Dreieck ad oculos darzuthun. Dahin gehört auch sein Versuch, die 
Wahrheit des pythagoreischen Lehrsatzes an einem rechtwinkligen Dreieck, 
welches den vierten Theil seines Hypotenusenquadrats und die Hälfte 
eines seiner beiden Kathetenquadrate ausmacht, so augenscheiulich in 
Figura darzustellen, daß auf den ersten Blick erhellt, wie das Quadrat 
der Hypotenuse gleich ist der Summe der Quadrate der beiden 
Katheten. Da aber der gegebene Fall uns nur das gleichschenklige 
rechtwinklige Dreieck zeigt, so wird die Geltung des pythagoreischen 
Satzes nur zum Theil, also nicht bewiesen. 
Die logischen Beweise sind demonstrativ, die geometrischen sollen 
intuitiv sein: jene geschehen durch Sätze, diese sollen durch Anschauung
	        
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