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Propädeutik.
Zeit und Raum bestehen aus lauter gleichartigen, mit einander
verknüpften Theilen; die Theile des Raums sind bestimmt durch ihre
Lage, die der Zeit durch ihre Folge. In der Zeit ist jeder Moment
durch alle vorhergehenden bedingt, die abgelaufen sein müssen, bevor
er eintritt: im Raum ist jede Figur durch ihre Lage und Grenzen be
stimmt, wodurch sie mit einer anderen zusammenhängt, welche wieder
durch eine andere begrenzt ist, mit der sie zusammenhängt, und so fort
nach allen Richtungen ins Endlose.
Alle in dem Nexus der Lage und in dem der Folge enthaltenen
Verhältnisse werden oder gestalten sich nicht erst mit der Zeit, sondern
sind und bleiben, wie sie sind, für alle Zeit. Daher gilt von den
mathematischen Wahrheiten, daß sie weder entstehen noch vergehen.
Aus dieser Erwägung bezeichnet Schopenhauer die Verhältnisse in
Zeit und Raum, den Nexus der Folge und den der Lage, worin die
mathematischen Wahrheiten ihren Bestand haben, als den „Grund
des Seins".
2. Arithmetik und Geometrie.
Die Folge der Zeittheile von Schritt zu Schritt werden vor
gestellt, indem sie gezählt werden; alles Rechnen ist ein methodisch ab
gekürztes Zählen: darauf gründet sich die Arithmetik. Die Wahr
heiten der Geometrie, wenn sie aus dem Wesen des Raums und seiner
Größen nicht unmittelbar einleuchten, d. h. Axiome sind, werden durch
eine schlußgerechte Ordnung von Sätzen demonstrirt, d. h. logisch be
wiesen, während doch der Grund, aus dem sie folgen, nicht der des
Erkennens, sondern der des Seins ist.
Daher fordert Schopenhauer die Anschaulichkeit der geometrischen
Beweise und sucht dieser Forderung gemäß einige Sätze vom ebenen
Dreieck ad oculos darzuthun. Dahin gehört auch sein Versuch, die
Wahrheit des pythagoreischen Lehrsatzes an einem rechtwinkligen Dreieck,
welches den vierten Theil seines Hypotenusenquadrats und die Hälfte
eines seiner beiden Kathetenquadrate ausmacht, so augenscheiulich in
Figura darzustellen, daß auf den ersten Blick erhellt, wie das Quadrat
der Hypotenuse gleich ist der Summe der Quadrate der beiden
Katheten. Da aber der gegebene Fall uns nur das gleichschenklige
rechtwinklige Dreieck zeigt, so wird die Geltung des pythagoreischen
Satzes nur zum Theil, also nicht bewiesen.
Die logischen Beweise sind demonstrativ, die geometrischen sollen
intuitiv sein: jene geschehen durch Sätze, diese sollen durch Anschauung