Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Schopenhauers Charakter. 
war. Als er fühlte, daß dieses Gebilde in ihm zu reifen begann, rief 
er aus: „Ich bin mit Frucht gesegnet!" 
2. Die geniale Geistesart. 
Was daher den Ursprung und die Ausbildung seiner Lehre be 
trifft, so will jener genial, diese künstlerisch sein und zunächst nichts 
mit den Zwecken der Moral und Religion zu schaffen haben. Nach 
ihrer ganzen Entstehungsart ist seine Philosophie nicht Religion, 
sondern Kunst, ihre Schriften sind Kunstwerke oder Genieproducte, die 
als solche nichts mit künstlichen Machwerken gemein haben. So hat 
Schopenhauer selbst seine Werke betrachtet und von andern angesehen 
und beurtheilt wissen wollen. Auch haben seine Vertheidiger, wie 
Lindner und Frauenstädt, diesen künstlerischen Ursprung und Charakter 
seiner Lehre mit Recht denen entgegengehalten, welche den Widerstreit 
zwischen der Lehre und dem Leben des Philosophen zur Zielscheibe 
ihrer Angriffe gemacht hatten. Aber jene Apologeten haben Unrecht, 
wenn sie meinen, zwischen der Philosophie und dem Charakter ihres 
Meisters nunmehr eine Uebereinstimmung nachgewiesen zu haben, welche 
nichts zu wünschen und zu vermissen übrig lasse. 
Ganz in denselben Irrthum, nur daß. sie denselben noch vergröbern, 
gerathen die jüngsten Apologeten, von schülerhafter Bewunderung der 
gestalt verblendet und befangen, daß sie gerade die schreiende Nicht 
übereinstimmung zwischen der Lehre und dem Leben ihres Meisters für 
die allerhöchste Uebereinstimmung halten. Wäre Schopenhauer seiner 
Lehre gemäß ein weltentsagender Asket gewesen, so hätte er ja — sagen 
diese laudatores minores — seine herrlichen Werke nicht schreiben können. 
Freilich schreibt man solche Werke weit besser auf der „Schönen Aussicht" in 
Frankfurt am Main, als im Kloster zu La Trappe, wo man sie weder 
schreiben kann noch darf. Vielleicht werden die Apologeten vom jüngsten 
Schlag uns auch nachweisen, daß ihr Schopenhauer doch ein ganz 
anderer Mann war, weit erhabener und vollkommener als Buddha, 
Sokrates und Christus, da diese ihre Lehre nicht geschrieben, sondern 
bloß gelebt und verkörpert haben. Natürlich hat Schopenhauer selbst 
sich besser gekannt als ihn seine blindesten Schüler: er hat die Ueber 
einstimmung zwischen seiner Person und seiner Lehre da erblickt, wo 
sie war, und keineswegs da erklügeln wollen, wo sie nicht war. viel 
mehr der Widerstreit beider offen am Tage lag.
	        
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