Volltext: Die Schweiz im Weltkrieg [61]

körperlich-beseelten Dasein eine besondere göttliche Idee zu ge¬ 
stalten, sie pflegt die ihr zugewiesenen Tugenden der Entsagung 
und der selbstlosen Humanität, während andere kämpfende Nationen 
die heroischen Tugenden der Gefahr und der Größe aus derselben 
tiefen geographisch-geschichtlichen Notwendigkeit erfüllen müssen. 
Eine Sache ist nie ganz schlecht oder ganz gut. Die moralische 
Beunruhigung des Volkes durch seine wirtschaftliche Armut 
erzeugte immer so viel Spannung, als nötig war, um je und je 
eine neue politische Freiheit als atmosphärische Auslösung hervor¬ 
zubringen. Sei es im tiefsten Sinn eine demokratische Neigung, 
sich Legitimationen aus anderen Gefühlsgebieten zu verschaffen 
oder im höchsten Sinn der Drang nach der weltsittlichen 
Synthese: jedenfalls kommt nie eine wirtschaftliche Erregung 
als solche zur Geltung, sondern sie tritt im Auftrag der Religion 
auf, oder sie schlägt einer bestehenden Religion oder Welt¬ 
anschauung, die man auf der anderen Seite hat, demonstrativ die 
Fenster ein. Die sozialen Spannungen des fünften Jahrzehnts des 
19. Jahrhunderts, die im Grund immer die alten wirtschaftlichen 
Spannungen waren, nur mit einer neuen Etikettierung, führten 
in der Schweiz zu einem verspäteten Religionskrieg, wenigstens 
dem oberflächlichen Ansehen nach; im Grund war es ein Krieg 
der kapitalistisch entwickelten, evangelisch-freisinnigen Städte gegen 
die sogenannte jesuitisch-reaktionäre, patrizisch verwaltete Arschweiz 
und ihre katholischen Parteigänger, die neuen romanischen Kantone, 
politisch gesehen ein Krieg der zentralistischen modernen Staats¬ 
idee gegen die alte partikularistisch-föderalistische, wirtschaftlich be¬ 
trachtet eine erste Kraftprobe des neuen sozialen Zeitalters der 
Arbeit und des Weltverkehrs mit den individuelleren alten volks¬ 
wirtschaftlichen Methoden. Nicht zufällig standen sich auch hier 
die beiden Lager gegenüber, die das sittliche Postulat Zwinglis 
geschaffen hatte, und die Gegner der neueidgenössischen Ordnung 
waren dieselben patrizischen Dynastien, die damals am Solddienst 
und -verdienst festhielten und nun als Schuldenherren und kon¬ 
servative Landregenten die Erneuerung der Dinge in jedem Fall 
ungern sahen. 
Sehr beliebt ist es überall, über wirtschaftlichen Spannungen 
politische Reformen und Sicherheitsventile einzusetzen in Gestalt 
von gewissen Volksrechten theoretischer Natur, während die Praxis 
nach wie vor ungekühlt auf die Nägel brennt. Aus jenen 
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