Volltext: Die Schweiz im Weltkrieg [61]

die Wandlung des Zustandes bedingt wurde, sich nicht ohne be¬ 
deutende Hemmungen und Reibungen vollzog. Die Gegenwart 
zeigt, daß der neue Staatsgedanke in den Köpfen schon tief 
Wurzel geschlagen hat. Man lehnt es entschieden ab, als deut¬ 
scher oder französischer Schweizer angesprochen und für das be¬ 
treffende Sprachgebiet reklamiert zu werden; man ist Eidgenosse 
und damit in seinem Bewußtsein unteilbar. Mit anderen Worten: 
man hat die moralische Mission, die mit dem Amschwung ge¬ 
geben wurde, klar erkannt und in sich den absoluten Willen ge¬ 
funden, sie zu erfüllen. Dazu war vor allen Dingen nötig, daß 
man den Grundsatz der Neutralität sittlich vertiefte und politisch 
weiter ausbaute, denn von jetzt an bedeutete er auch eine innere 
Lebensbedingung. Dies geschah, indem man ihn zur europäischen 
Anerkennung brachte, jenes, indem man ehrlich und redlich die 
Zusammenarbeit mit den romanischen Volksgenossen aufnahm. 
Es ist ersichtlich, daß in dieser moralischen Position ein sehr wert¬ 
voller und weittragender Menschheitsgedanke enthalten ist; die 
Schweizer haben ihn nicht geschaffen, aber sie haben ihn erkannt, 
und in ihren besten Köpfen lebt er immer als letzte nationale 
Daseinsberechtigung. Die Schweiz wird vor dem Weltgericht 
bestehen oder nicht bestehen, je nachdem es ihr gelang, diese Idee 
in ihrem Staatswesen und ihrer Kultur zur Anschauung zu 
bringen. Solange das Ideal einer Vermenschlichung der Mensch¬ 
heit durch eine Versöhnung der Rassen und Verbrüderung der 
Nationen nicht in größerem Maßstab gelöst ist, so lange besitzt 
die Eidgenossenschaft, in welcher es als Keim enthalten ist, durch 
den Willen der Geschichte eine immanente Heiligkeit, von der ihr 
freilich die ganze Verantwortung vor der physischen wie der 
geistigen Welt allein zufällt. 
Es sind also zwei entschiedene Eigenarten, die das Wesen 
der heutigen Schweiz ausmachen: erstens ihre Fortsetzung der 
deutsch-demokratischen Staatsideale und zweitens deren Kon¬ 
jugation mit der humanen Idee von der Gesamtmenschheit; mit 
einem anderen Volkswesen konnte diese auch nicht konjugiert 
werden, und darin liegt die ursächliche Anvermeidbarkeit der 
schweizerischen Eidgenossenschaft, nicht in den Bedürfnissen oder 
dem Gutdünken der Großmächte. Man dürfte sagen, daß die 
Schweiz durch die Land irgendeines Gottes dem traditionellen 
Verlauf der irdischen Staatengeschichte entzogen sei, um an ihrem 
13
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.