Volltext: Der Weltkrieg und die politischen Gedankengänge Europas [30]

vogteien herablassen zu dürfen glaubten, als ob dieses Reich 
ein kaum noch atmender Leichnam wäre, als ob seine Bewohner 
wie zusammengestohlene Findlinge umherliefen und als ob 
verschämte Väter sich dieser voll herablassenden Erbarmens 
zu erinnern hätten! Oft habe ich es mir gedacht: Wenn es 
nur nie dieses „Also ob" gegeben hätte! Wie ein zitterndes 
Irrlicht gaukelte es exzentrischen Köpfen Umrisse grotesker 
Eroberungspläne vor Augen, entfesselte es den widerlichsten 
Hexensabbath nationalen Überheils und legte der Monarchie 
schließlich den Krieg vor die Tür. Nun wirkt er schon drei 
Jahre lang am Webstuhl der Zeit und fertigt aus gesponnener 
Jugend bleiches Linnen fürs Grab. Und fragt man sich nach dem 
Endzweck dieser Metzeleien, so kann man schaudernd ein Ende 
wahrnehmen, an dem schon jetzt der ewige Funke neuer Metze¬ 
leien glimmt. 
Deutlich genug hat im Jahre 1909 der serbische Partei¬ 
führer Stojan Protic dieses Ende gekennzeichnet: „Zwischen 
uns und Österreich-Ungarn kann es nur dann Frieden und gute 
Nachbarschaft geben, wenn Österreich-Ungarn darauf verzichtet, 
eine Großmacht zu sein; wenn es sich entschließt, die Rolle 
einer östlichen Schweiz zu übernehmen". Das also ist der feind¬ 
lichen Staats- und Gesamtweisheit letzter Schluß: Als unan¬ 
tastbares Herrschaftsgebiet wird demnach dem Hause Österreich 
ein Miniaturstaat angetragen, der wie eine Achse ohne Reif 
und Speichen sich in Zukunft helfen möge wie er kann. 
Nur über die Platzfrage hat sich noch keiner geäußert, 
haben sich alle miteinander wohl auch noch nicht geeinigt. 
Aber selbst, wenn es geschehen sein sollte, würde es wohl schwer 
fallen, auch noch den Zauber zu lösen, wie aus dem Golde der 
Haus- und Stephanskrone der Ring geschmiedet wird, der die 
geplanten Völkerbrüche aus der Tiefe ruft. 
Der Patriarch der tschechischen Geschichtsschreibung, der 
bekannte Domdekan Eosmus von Prag, legt dem sagenhaften 
Begründer des Premyslidenreiches Boemus nach feierlicher 
Landnahme das schöne Schlußwort in den Mund: „Hier wird 
euch nichts abgehen, weil niemand euch in den Weg treten wird." 
Dieses Patriarchenwort gilt weiter, fast möchte man sagen 
für die ganze Monarchie. 
Denn dieser eingewölbte Erdstrich am Silberband der 
Donau, ist er etwas anderes als eine stillversteckte Klause 
inmitten des Kontinents, die, als aus den Riesenbehältern 
Asiens die massenhaften Überschüsse einer zusammengestauten 
Menschheit nach Europa fluteten, die abgefallenen Splitter 
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