38
ohne Eile strebt er vorwärts. Er muß drüben sein, ehe der Zug da
ist. Der Führer der Lokomotive muß das Licht noch sehen, ehe die
Räder die Brücke berühren.
Je weiter Felix vorankommt, desto gefährlicher zeigt sich der
Weg. Vym Mauerwerk unter den Schienen sind ganze Trümmer
weggerissen, stellenweise klafft der Boden auf, und das Wasser unten
wird unterm Schein der Laterne sichtbar. Einmal verfängt sich der
Fuß, mit der größten Mühe kann er sich wieder loslösen. Dem Jun¬
gen hämmert das Herz. In seiner Not kann er nichts tun als beten.
Plötzlich erbleicht er. Er sieht mehrere Meter lang nur noch die
Schienen laufen, alles andere unter ihnen ist weggerissen. Das
Wasser bäumt sich, fast greifbar nahe, empor, als wollte es mit sei¬
nem Bäumen sagen: Was wist du noch hier? Das ist meine Beute.
Flieh, sonst ist es für dich zu spät! Felix zögert, soll er vorwärts, soll
er zurück? Der Versucher wagt sich an den Jungen heran und fragt:
Für wen opferst du dich? Für Leute, die du gar nicht kennst. So
jung bist du, nur einmal hast du zu leben, das alles willst du tun für
Fremde. Durch die Seele des Kindes aber klingt die Stimme des
Glaubens: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Und
wieder ruft der Versucher: Was hast du, was haben sie davon, wenn
du vorwärts dringst und von den Schienen in die Tiefe stürzest?
Ihnen ist nicht geholfen und du büßt es mit dem Leben. Der Knabe,
ratlos, wie er vorankomme. Hat die Hände gefaltet und betet zu Gott
um Hilfe. Da flüstert ihm wieder der Glaube in die Seele: Was
du dem Geringsten meiner Brüder getan, das Hast du mir getan.
Unsterbliche Seelen sind es, die du da retten kannst. Gar mancher
würde darunter sein, der in schwerer Sünde in die Ewigkeit hinüber
müßte! Gott sieht das Opfer, das du bringst. Deines Opfers willen
kann er Erbarmen üben und dich zum Werkzeug ihrer Rettung ma¬
chen. Da fühlt sich der Knabe von neuem Mut beseelt. Unsterbliche
Seelen gilt es, die er retten soll. Er kniet sich zu Boden, auf die
Schienen, langsam, vorsichtig schiebt er sich voran, der Todesgefahr
nicht achtend, von der ihn kaum einige Armlängen mehr trennen.
Eine überirdische Kraft beseelt ihn, er kennt sich selber nicht mehr.
Nach vier Minuten hat er die gefährliche Stelle Hinter sich und
kann sich erheben. Wieder zu Fuß voran, wieder ein Stück, so tritt¬
weise Meter an Meter, bis er mehr als die Hälfte der Brücke hinter
sich weiß.
Bis er zur Stelle kommt, die noch Schlimmeres vorweist, als
die frühere. Eine einzige Schiene verbindet nur noch hüben und
drüben miteinander. Dem Knaben sinkt der Mut. Der Versucher
steht zum drittenmal neben ihm und spracht: Denke an deinen Va¬
ter. Niemand hat er mehr aus der Welt, wenn du zugrunde gehst.
Das kann niemand von dir verlangen, von dir, einem Kinde, vom
einzigen Kinde seines Vaters. Da sieht Felix im Geiste den Vater
vor sich. Deutlich, ganz deutlich, bis zur kleinsten Linie. Er hört
ihn reden: Felix, auch mir ging es einmal wie dir. Andere sollte ich
retten und dachte: Wenn ich aber nimmer heimkehre? Wer wird für