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das Kind los zu werden, das Verschweigen ihrer Beziehungen zur
Zigeunerin, das Gespräch mit dieser, ihre zwiespältige Angabe über
den Zweck ihres Ausfluges am kritischen Morgen, schließlich die
erdrückenden Aussagen der Meinhart-Tochter, die sich mit denen
des Standings deckten. Auf Grund alles dessen beantragte der
Staatsanwalt den Schuldspruch. Daraus ergriffen die zwei Vertei¬
diger unmittelbar hintereinander das Wort, stießen alles, was
der Staatsanwalt vorgebracht hatte, um, führten hundert Dinge an,
die für die Unschuld der Marialene zeugten, und richteten schlie߬
lich eine ergreifende Bitte an die Geschworenen, die Angeklagte frei¬
zusprechen. Die beiden Advokaten hatten überzeugend, glänzend,
hinreißend gesprochen, mehrmals wurden sie von jubelndem Bei¬
fall unterbrochen, und die wenigsten im Saale zweiflten mehr am
Freispruch der Marialene.
Diese saß in fiebernder Aufregung da und war bald glührot,
bald mauerweiß. Auch dem Daviter klopfte wild das Herz und seine
Gedanken wurden wie ein Schifflein im Sturm hin- und hergewor-
fen von Furcht und Hoffnung.
Die Geschworenen hatten sich zur Beratung zurückgezogen. Als
sie nach einer halben Stunde wieder erschienen, war es so still im
Saale, daß man hätte eine Nadel fallen hören können. Und nun ver¬
kündete der Präsident im lauten, feierlichen Ton, die Angeklagte
sei mit acht gegen vier Stimmen des Kindesmordes schuldig gespro¬
chen worden.
„Heiliges Kreuz!" gellte die Marialene, sank auf den Stuhl
zurück und zitterte so schrecklich, daß ihre Finger an der Stuhllehne
nur so hüpften. Ihre goldglänzenden Haare waren in das marmor-
bleiche Gesicht herein gefallen und ein Krampfweinen erschütterte
ihren Körper. Wie sie in ihrer rührenden Hilflosigkeit dasaß, glich
sie förmlich einem Marterbild. Jetzt ließ sich eine neue Stimme
vernehmen, die verkündete, Laß die Schuldiggesprochene in Rücksicht
aus unterschiedliche Milderungsgründe zu zehn Jahren Zuchthaus
verurteilt sei. Die Marialene riß entsetzt ihre Augen auseinander,
ein furchtbarer Schrei entrang sich ihren Lippen, fast wie in Todes¬
not schrie sie:
„G o t t f r i e d!"
Dann sank sie ohnmächtig vom Stuhl und mußte hinausge¬
tragen werden. Der Daviter wankte hinter ihr drein. Im ganzen
Saal aber ging ein Schluchzen an, das Mitleid mit der armen Frau
war allgemein,' die Dienstboten vom Daviterhof und viele Leute
von Oswalden, die zugegen waren, weinten laut.
Ctn ftt&timrser Vogel fliegt Ewer vie Vin».
Was die Zeit nicht zu heilen vermag, das tut um so wehere, je
länger es dauert. Hievon konnte der Daviter ein Wort reden. Seit
der Verurteilung seiner Gattin waren anderthalb Jahre verflossen,
und die Wunde in seinem Herzen brannte von Woche zu Woche är¬
ger. Und nicht nur eine, sondern verschiedene Qualen waren es, die
ihn marterten. Bald fraß eine zehrende Sehnsucht nach der Maria-