Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1928 (1928)

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„Die schöne, gute, goldene Frau hat ein Kind, dem der schwarze 
Mond vor dem Gesichte steht. Warum Hilst die Frau dem Kinde 
nicht?" 
Marialene kam in große Aufregung. Wenn die Zigeunerin 
ein Mittel wüßte! Diese Leute verstehen ja allerhand und sollen mit 
ihren Zauberkünsten unglaubliche Dinge vollbringen. Mein Gott, 
es wird keine Sünde sein, jedensalls ist's keine große, wenn sie dem 
Kind von der Zigeunerin Helsen läßt. Ein paar Augenblicke über¬ 
legte sie und sprach dünn: 
„Es hat noch kein Mittel geholfen." 
Die Zigeunerin sagte lauernö: 
„Wenn mir die schöne, weiße Frau das silberne Kettlein schenkt, 
das sie um den Hals hat, treib ich den schwarzen Mond von Kind¬ 
chens Gesicht, daß es hell wird wie die Sonne." 
„Das Kettchen darf ich nicht herschenken, aber wenn du das 
schwarze Mal wegbringst, schenk ich dir etwas anderes oder ich gebe 
dir ein Geld." 
„Die schöne Frau ist gut und gnädig,' aber ich muß das Kind 
sehen, daß ich sagen kann, was zu machen ist und wie der Mond ge¬ 
gen die Sonne steht." 
Marialene zögerte noch, aber dann gab sie der alten Hexe einen 
Wink, ihr zu folgen. Sie gingen mitsammen in die Familienkam¬ 
mer, wo das Knäblein ruhig in der Wiege schlief. 
. Ein paar Minuten später schlich Liesl, der Kiebitz, auf den Ze¬ 
henspitzen zur Kammertür. Sie hatte von der Küche aus gesehen, 
wie die Hausfrau mit der Zigeunerin in die Kammer trat und war 
sich sofort klar, daß die Alte an dem Kinde ihre Zauberkünste versu¬ 
chen werde. Himmel, wenn man da zuschauen könnte! Leider stand 
die Kindswiege aus der andern Seite, so daß man durch das Schlüssel¬ 
loch nicht hinsehen konnte. So sehr das neugierige Mädchen seine 
Wunderäuglein anstrengte, es konnte doch nichts erspähen. Es spitzte 
die Ohren wie ein Königshase, vermochte aber auch nichts zu erhor¬ 
chen, denn die beiden drinnen sprachen entweder leise oder halblaut. 
Nur einmal Hörte es folgende Rede und Gegenrede: 
„Mir wär's lieber später. Die Sönne geht früh auf." 
„Nein, die schöne, weiße Frau darf's nicht versäumen." 
„Dann muß ich schon um vier Uhr gehen." 
„Die schöne, weiße Frau muß vor der Sonne dort sein." 
Der Kiebitz hielt den Atem an und drückte sein Oehrlein fast 
ins Schlüsselloch hinein. Aber jetzt sprachen sie wieder leiser,' es 
ächzte eine Schublade, ein Papier knisterte uNd dann sagte die Zi¬ 
geunerin: 
„Ich küsse der guten, schönen, weißen Frau die Hand und alle 
fünf Finger." 
Und gleich darauf näherten sich drinnen Schritte der Tür. Das 
Kiebitzmädchen hatte gerade noch Zeit, aufzuspringen und öavonzu- 
huschen. Einen halben Vaterunser später trat die Zigeunerin aus 
der Kammer und humpelte rasch zum Tore Hinaus.
	        
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