Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1926 (1926)

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wußt vermißt sie ein eigenes Heim. Oder ist es Sehnsucht nach ihrem 
Manne? Fühlt sie sich schuldig, daß sie über ihrer Lehenssucht ihre 
beiden Kinder vernachlässigt hat? Hat sie nie bedacht, daß die Armen 
ihre Eltern nie ganz um sich haben? Anitta fühlt Tränen in ihren 
Augen. Sie überließ Georg seinem Schicksal. Nur weil er nicht so viel 
verdienen konnte. Weil sie an seiner Prothese Anstoß nahm. Fast 
wider Willen dringen Worte aus der Predigt des Greises an ihr Ohr. 
„Liebe ist mehr als bloße Befriedigung der Wünsche des armen 
Herzens nach Leben. Das moderne Mädchen, die moderne Frau, sie 
meinen ein Anrecht auf Freiheit, auf Erfüllung aller Genüsse zu haben. 
Der schönste Beruf des Weibes ist der der Mutter, der sorgenden, 
treuen und liebevollen Gattin. Der goldene Reif erschließt nicht allein 
ein Leben des Vergnügens, er bürdet auch Pflichten auf. Nur echte 
Liebe weiß dann auch das Leid zu tragen. Blicken Sie auf zur Gottes¬ 
mutter, die das Ewig-Weibliche strahlend durch alle Zeiten und Moden 
verkörpert. Nur durch Leid reift die Seele. Was wären wir armen 
Menschen, hätten wir die versöhnende Liebe nicht. Jene Liebe, die 
Hoffnung und Glaube bindet, die den Duft der Rosen trinkt und das 
Blut der Dornenwunöen kühlt. Menschen wachen da auf, mit heißen 
Sinnen und blinden Augen. Taumeln durchs Leben und stürzen durch 
all die Wirrnis eines gleißenden Trubels, der gleich einem Vulkan 
alles verschlingt, was sich ihm durstig naht. Und wenn dann des 
Lebens ernste Schatten dunkeln, wissen diese armen, verwirrten Men¬ 
schenkinder ihr Kreuz nicht zu tragen. Und doch schwebt über aller 
Welt die Mutter aller Mütter, die große, allgütige Frau, die für die 
ganze Menschheit die Liebe selbst in Reinheit und Demut gebar. Ihre 
trostgewaltige Himmelsgüte, ihre begnadende Milde und alles Leid be¬ 
zwingende göttliche Weiblichkeit feiern wir im Frühling im Duft der 
Blüten und im lachenden Grün einer wundersam erneuten Welt. Und 
kein Herz, das irregegangen, darf in bitterer Einsamkeit verzagen. 
Denn auch dem größten Sünder, dem schwerst an seinem Leid Tragenden 
winkt Gnade, wenn er sein banges Herz der Madonna in Kindlichkeit 
erschließt." 
Durch die farbigen Glasfenster bricht goldiger Sonnenschein, die 
wunderlichen Heiligen auf ihren Postamenten lächeln verträumt, als 
sännen sie uralter Weisheit nach. 
Leise hebt die Orgel zu singen an, das ferne Lieb einer Amsel 
übertönend. Und dann schwillt ihr frommes Lied an, wird Brausen 
und hymnischer Jubel, und helle Stimmen fallen schuldlos selig ein. 
Frau Anitta lehnt bebend den Kopf zurück und lauscht mit gefalteten 
Händen. Ihr ist, als hätte sie nach langer Irrfahrt heimgefunden. Noch 
ein inbrünstiges, einfältig aus dem Herzen kommendes Gebet und dann 
geht sie leise fort, die Worte des Priesters im Herzen, den Jubel der 
Orgel im Ohr. Sie blickt mit blanken Augen in den sinkenden Abend. 
Sie geht ruhig, weil sie seit langem wieder Frieden in sich fühlt. Zu 
Georg führt sie ihr Weg, sie will ihm ein echtes, starkes Weib sein. 
Weib und Mutter. Und sie will ihn bitten, ihr all die Liebe, die er 
ihr gab und geben wollte und die sie so schnöde verleugnete, neu zu 
schenken. Denn sie glaubt wieder an die Liebe, die Hoffnung und 
Glaube bindet, um den Duft der Rosen zu trinken und auch das Blut 
der Dornenwunöen des Lebens zu kühlen.
	        
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