Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1924 (1924)

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Legenden und Sagen. 
Aus dem literarischen Nachlasse des verstorbenen hochwürdigen Paters 
Matthias Grammer von Puchheim. 
vie Spinne. 
Es war eine Spinne, Halb erfroren. Halb ver¬ 
hungert kauerte sie in ihrem Netzlein in einer 
Krippe. Die Fliegen und kleinen Gelsen, von 
denen sie im Sommer gelebt hatte, waren längst 
schon tot. Es herrschte jetzt der rauhe Winter. 
Unsere Spinne, die sehr gutmütig, war, versauerte 
zwischen Kälte und Einsamkeit. Langsam löste sie 
ihr kunstvoll Gespinsd auf und! schickte sich an, den 
eben eingetretenen strengen Winter zu- verschla¬ 
fen. Da dachte! sie noch an ihre glücklichere 
Schwester, die im Hause des reichen Simeon 
Winkel genüg' und auch hinreichend Beute und 
Nahrung findet. Denn Simeons Frau ist keine 
Freundin der Reinlichkeit und Spinngewebe wer¬ 
den dort überhaupt nicht entfernt. Wirklich, die 
Spinne schlief eint und« sie würde wohl geschla¬ 
fen haben per omnia saecula saeeulorum, wenn 
nicht das Schluchzen eines Kindes sie geweckt ha¬ 
ben würde, ^ie Spinne krabbelte aus ihrer Ecke. 
Das Kindesweinen wurde stärker. Die Spinne 
lief auf ihrem Netze ganz heraus!: da sah sie ein 
Kind, ein neugeborenes Kind ganz von Licht um¬ 
flossen. So lebhaft wurde der Lichtglanz, daß er 
den ganzen Stall beleuchtete. Die Spinne hatte 
Mitleid mit dem weinenden schönen Kinde. Und 
so lief sie denn! an der Wand herunter über das 
Stroh hinweg und hinauf zur Krippe und von 
da zum Kinde und liest sich auf dessen Wange 
nieder. Da hörte das Kind zu weinen auf. Es 
fing zugleich mit seinen zarten Fingerchen die 
Spinne, hob sie vorsichtig in die Höhe über sein 
Haupt und liest einen Strahl feines Lichtes aus 
die Spinne fallen. Die Wirkung! war überra¬ 
schend: die Spinne wurde auf der Stelle selbst 
ganz leuchtend: sie erhob sich aus einmal weit in 
die Höhe, über das Dach des Stalles,, über das 
Haus des Simeon, über alle Fliegen und Mücken 
und Vögel der Luft. Die Spinne wußte nicht, 
wie ihr geschah, ob sie in Kraft des Lichtglanzes 
dek Krippe oder durch die zarten Finger des neu¬ 
geborenen» Kindes so weit in die Höhe erhoben 
wurde. Sie stieg immer höher, bis sie unter den 
Sternen ihren Ruhepunkt fand. 
Unten im Stalle an der Krippe langten vier 
Hirten mit ihren Gaben an. Bevor sie eintraten 
blickten sie noch zum nächtlichen Himmel auf» 
Einer stieß den anderen an und wies mit Fin¬ 
gern auf den seltsamen, früher nie gesehenen 
Stern hin: es war dis in einen Stern verwan¬ 
delte Spinne. 
Puchheim, 2. Märiz 1919. 
Pater Matthias Grammer 0. 88. R. 
Die Legende vom weinftocke. 
Eine morgenländische Legende sagt, daß einst 
Dionysios einen weiten Weg in 'Griechenland 
machte. Da ward er müde und setzte sich auf einen 
Stein. Da -er so herumblickte, sah er eine kleine 
Pflanze, die ihm gefiel und die er mit nach Hause 
nehmen wollte. Die Sonne brannte heiß und 
Gott Bacchus, auch Dionysios genannt, fürchtete, 
daß^sie verdorre. Deshalb gab der junge Gott die 
Pflanze in das Innere eines Beines von einem 
Vogel, den er gefunden hatte. Allein auf halbem 
Wege gewahrte der populäre Bewohner des 
Olymps, daß die Pflanze derart wuchs, öast die 
beiden Seiten des Vogelbeines sich bedeutend 
ausdehnten und die Blätter der so rasch wachsen¬ 
den unbekannten Pflanze schon wieder zu ver¬ 
welken anfingen. Da stieß er auf 'einen toten 
Löwen. Das kam dem Gott Bacchus sehr gelegen. 
Er nahm also ein Bein vom toten Löwen und in 
dieses gab er die gefundene Pflanze samt dem 
Bein des Vogels, weil er die Pflanze aus dem 
Gebein des Vogels nicht mehr losmachen' konnte. 
Bacchus Dionysios hatte nur noch etliche Meilen 
in seine Wohnung. Jedoch die Pflanze wuchs 
wieder derart, daß auch die Behausung im Lö¬ 
wenbein den hervortretenden Blättern keinen 
Schutz mehr gab vor der Sonnenglut. Da traf er 
auf dis Leiche eines Esels. Geschwind tat Bacchus 
die Pflanze samt Löwen- uüd Vogel-Bein in das 
Esels-Bein: und so gelangte er in seine Götter¬ 
wohnung. Da es ihm unmöglich war, die Pflanze 
aus ihren drei Gehäusen zu entledigen, so setzte 
er alles miteinander in seinem Garten in die 
Erde. Im nächsten Jahre trug die Pflanze schon 
Früchte: Weintrauben hingen herab, die unbe¬ 
kannte Pflanze war der Weinstock. Bacchus 
spendete den Menschen den Wein! Wie 
groß war aber des fröhlichen Griechengoktes Er¬ 
staunen, da er die verschiedenen Wirkungen des 
von ihm kredenzten Weines wahrnahm! Denn 
jene, welche mäßig Wein tranken, sangen lieblich 
wie Vöglein. D i e, welche ein bißchen mehr nah¬ 
men, wurden stark wie Löwen. Jene endlich, 
welche übermäßig dem Weine huldigten, v-erloren 
das Bewußtsein, wurden betrunken und glichen 
dem Esel.
	        
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