Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1920 (1920)

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Bon den Lippen des vierjährigen Kna¬ 
ben vernahm sie zum erstenmal im Le¬ 
ben das süße Wort: „Dich hab ich lieb." 
Das vergaß sie ihm nie, obwohl er 
nicht der einzige blieb, der es ihr sagte. 
Ihre Erinnerung führt sie jetzt un¬ 
ter die alte Buche, die des Onkels 
Hans beschattete. Hier saß sie an einem 
schönen Junitage in Gesellschaft der 
Kinder. Ringsum standen die Rosen 
in Blüte: ein berauschender Dust 
schwebte über dem Garten, und in den 
Wer er nur war, dieser Gustav? 
Melanie erhob die Augen und schaute 
ihn an: denn jetzt stand er vor ihr, 
von der Tante als „Herr Fried, unser 
alter Freund", vorgestellt. Der „alte 
Freund" sah sehr jung aus. Er hatte 
ein einnehmendes, lächelndes Gesicht, 
ein Gesicht, das die Freude der Erwar¬ 
tung auszustrahlen schien. 
„Welcher Wind hat Sie denn herge¬ 
weht?" fragte die Tante. 
„O, ein sehr guter Wind", ver- 
Zweigen haschten sich irvhe kleine Vö¬ 
gel. Hänschen kauerte im Rasen zu 
Füßen seiner „Meanie" und lauschte 
mit weitgeöffneten Augen: denn sie 
erzählte ein Märchen. 
„Das ist etwas für mich", sagte 
plötzlich jemand hinter ihr. Sie schrak 
zusammen. Es war eine fremde 
Stimme. 
Die Mädchen sprangen jubelnd auf. 
„Gustav!" riesen sie, „Mama, der Gu¬ 
stav ist wieder da!" 
Vom Hause näherte sich raschen 
Schrittes die Mutter: zwei Knaben 
stürmten Hinter ihr her, und von 
allen Ecken und Enden klang's fröh¬ 
lich wieder: „Gustav! Der Gustav ist 
wieder da!" 
sicherte Gustav, „ein Wind, der sich 
keine neue Richtung mehr auszwingen 
läßt. Ich habe von der Universität 
Abschied genommen: denn ich will 
Maler werden. Mein Vormund hat 
nichts mehr zu reden. Ich bin gekom¬ 
men, mir mein Erbteil zu holen: vor 
zwei Tagen bin ich mündig geworden." 
Die Tante schüttelte den Kops und 
tat sehr erschrocken. Aber Gustav 
lachte ihre Bedenken hinweg und er¬ 
zählte von einem berühmten Künstler, 
der ihm die glänzendste Zukunft vor¬ 
aussage. Diesem Meister folge er dem¬ 
nächst nach Paris. Die Verwirklichung 
seiner Träume sei nur mehr eine 
Frage der Zeit. 
Die Tante blickte ihre älteste Doch-
	        
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