Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1919 (1919)

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Serbien durch den russisch-türkischen Frie— 
den von San Stephano seine Unabhängig— 
beit erlangte und — wenigstens gegen die 
Monarchie — freie Hand bekam.— 
Die Ursache des Zwistes lag, wie in der 
Entwicklung, so auch in der ganzen Natur 
des serbischen national-konfessionellen Er— 
oberungsgedankens oder, kurz gesagt, in 
dem alles verschlingen wollenden Byzan— 
tinismus. Diesem war für Serbien mehr 
als lange genug die Spitze abgebrochen, 
ohne daß er indessen jemals aufgehört 
hätte, zumindesten im stillen zu wirken. 
Ja, ihm zuliebe und seinen Prinzipien 
solgend, hatten die Serben seinerzeit die 
Herrschaft der Osmanen williger aner— 
Lannt, als man es ihrer Vergangenheit 
zugemutet hätte, wodurch es ühnen gelang, 
mit dem Islam ein Abkommen zu treffen 
und so das Bollwerk des bei ihnen zum 
politischen Faktor gewordenen Byzanti— 
nismus, das Ipeker Patriarchat, 1557 zu 
erneuern. Es war dies dann die Organi— 
sation, die das gesamte orthodoxe Volk im 
Ottomanischen Reiche, das ist jenes im 
Lande von Budapest bis südöstlich Skoplje, 
mit wenigen Ausnahmen umfaßte. 8u 
bdieser Organisation gehörten somit außer 
Serbien noch Bosnien und die Herzego— 
wina, Dalmatien, Slawonien, ein großer 
Teil von Kroatien und Ungarn. Sie alle 
bildeten durch das Ipeker Patriarchat im 
Grunde nichts anderes als einen theokra— 
lisch regierten serbischen Suzeränstaat. 
Dieser Staat im Staate brach erst zusam— 
men, als 1776 das Ipeker Patriarchat auf—⸗ 
gehyoben und die serbische Kirche jenem 
von Konstantinopel unterstellt w urde. 
Doch in der inneren Struktur jener 
Kirche blieb er weiterhin leben, und weil 
eben die Serben im Ipeker Patriarchat 
die Fortsetzung ihres von den Osmanen 
1889 auf dem Kosovopolje zertrümmer— 
ten politischen Staates gesehen hatten, so 
war auch ferner ihr ganzes Trachten dar— 
auf gerichtet, dieses Patriarchat — das ja 
als nicht anders anzusehen ist, denn als 
ber Vorläufer der großserbischen Ansprüche 
— abermals, und zwar in seinem ganzen 
Umfange zu verwirklichen: Kirchlich und 
politifch, wie ja die serbisch-orthodoxe 
Kirche jeit jeher im Dienste der Politik 
stand. Auch diesmal setzten sich beide das— 
—J—— jenseits der 
Grenzen Serbiens lag. Was Wunder, daß 
da zwischen den Interessen der Monarchie 
und jenen Serbiens sich eine unüberbrück— 
bare Kluft aufta. — 
üm das Verhältnis der Serben zu den 
Bulgaren — das wir hier nur streifen 
wollen — stand es nicht viel anders. Das 
Ausschlaggebende war dabei, daß die Bul⸗ 
garen, obwohl orthodox, politisch anti— 
bygantinisch sind, denn sie hatten, nüchtern 
und gerecht denkend, mit dem Byzantinis— 
nus ein- für allemal gebrochen. Daß dies 
auch bei den Orthodoren der Monarchte 
— soweit ihm welche verfallen waren — 
aunmehr ebenfalls erfolgt ist, sind wir be— 
rechtigt anzunehmen. Wir denken dabeit 
namentlich an die südlichen Gaue, insbe— 
ondere an Bosnien und die Herzegowina, 
vo gar manche mit den Serben gemein— 
same Sache gemacht hatten. 
Der kleine, machtvolle und ländergie— 
rige Nachbar Serbien, beunruhigte die 
Monarchie systematisch sowohl von außen 
her, wie auch im Innern ihrer Länder 
zdurch ständige Wühlereien. Die Monarchie 
verteidigte sich so gut sie konnte, doch da 
hieß es auf einmal: Oesterreich-Ungarn 
herfolge Serbien mit unversöhnlichem 
Zasse, und obwohl das Gegenteil zutraf, 
zrachte es byzantinische Fälschung wie 
mmer, so auch diesmal zuwege, die Wahr— 
heit zu verdrehen und einen beträchtlichen 
Teil der Welt die Lüge, wie sie Serbien 
paßte, glauben zu machen. Daß Serbien 
dabei stille Mithilfe bei den russischen 
Machthabern fand, kann weder befremden 
noch bezweifelt werden. Selbst auch dann 
fand es in dieser Richtung Hilfe, wenn die 
ungebärdigen Serben, wie dies zuweilen 
porkam. Rußland nicht sonst in allem gefü— 
gig waren. Dies änderte sich gründlich, 
als 1903 Verschwöreroffiziere die Leich— 
name Alexanders und Dragas aus dem 
Fenster des Belgrader Konaks hinaus— 
warfen: Da wurde ein neuer Kurs einge— 
leitet, der auch die Politik des zaristischen 
Rußlands ihrem Endziele zuführte. Denn 
Serbien kam unter Karagiorgjievic nicht 
nur völlig in die Hand der Großen an 
der Newa, sondern wurde auch zum süd— 
zstlichen Vorposten Rußlands gegen 
Oesterreich-AUngarn. Für alle Fälle und 
gewiß nicht gegen den Willen der Serben. 
Nach der Annexion von Bosnien und 
der Herzegowina durch die Monarchie, 
brachen die Serben in wütenden Lärm 
aus. Noch mehr! Sie verlangten mit ge— 
ballter Faust territoriale Kompensatio— 
nen. Doch Rußland hatte seine japani— 
schen Wunden noch nicht geheilt und un— 
er „Bundesgenosse“ und Nachbar an der 
Adria seinen Dolch noch nicht scharf ge— 
chliffen, und sso mußte Serbien zähne⸗ 
nirschend beigeben. Dagegen gelang es 
ihm, der durch den italienischen Raubzug 
uTripolitanien geschwächten Türkei 
einen Teil des Sandschak Novi Bazar 
sder andere fiel Montenegro zu) und 
Mazedoniens zu entreißen. Die unersätt— 
lichen Serben vermochten sogar auch noch 
jenen Teil Mazedoniens, der ihnen im 
Londoner Friedensschluß entgangen war, 
Bulgarien abtrotzen, so daß ihnen nach 
dem Bukarester Frieden ganz Altserbien
	        
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