Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1914 (1914)

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lasse mir mein Alles, meine Mutter, 
mein Glück in Armut und Not!" 
Dabei brach bas gute Kind in Trä¬ 
nen aus und schluchzte laut. 
Durch das Geräusch erweckt, be¬ 
wegte sich die Kranke und suchte sich 
aufzurichten. 
Die bestürzte Tochter gebot ihren 
Tränen mit fürchterlicher Anstrengung 
Halt und eilte an das Lager. 
„Ludmilla, mein Kind", sagte die 
Frau mit matter Stimme, „kommt 
Paul bald? Ich möchte ihn noch sehen, 
möchte euch zusammenführen, ehe ich 
fortgehe." 
„Fortgehen, Mütterchen? Was 
meinst du?" 
„Nun — hinaus. Weit fort von 
hier!" 
Sie richtete sich mit Unterstützung 
Ludmillas empor und sah nach der 
Tür. Der Sturm tobte unablässig und 
von Zeit zu Zeit heulte« die hungern¬ 
den Wölfe im Forste mit ihm um die 
Wette. 
Das halbgebrochene Auge der Fie¬ 
bernden senkte sich wieder und kopf¬ 
schüttelnd legte sie ihr müdes Haupt 
zurück. 
„Paul kann heute nicht mehr kom¬ 
men — die Post wird nicht fahren — 
ich sehe ihn wohl nimmermehr!" 
Nach diesen mit tiefem Schmerze 
gesprochenen Worten verfiel die 
Kranke wieder ln ihre Phantasien. Sie 
träumte, wie ihre Ludmilla mit Paul, 
dem abwesenden Bräutigam ihres Kin¬ 
des, am Traualtäre stand, wie sie 
selbst das Paar segnete, und sie sah das 
viele, viele Geld, welches der Schwie¬ 
gersohn aus Rußland nach Galizien 
gebracht hatte und auf dem hölzernen 
Tische ihres Hüttcheus ausschüttete. Es 
schwebten ihr vergangene Tage vor, 
Tage, wo Mangel und Sorge unbe¬ 
kannte Gäste in ihrer Wohnung gewe¬ 
sen und wo die Zukunft ihres Kindes 
schön und ungetrübt zu werden ver¬ 
sprach. 
Ludmilla blieb am Bette stehen. 
Sie war aufs Tiefste bewegt, und als 
sie wahrnahm, daß die Mutter die 
Augen geschlossen hatte, kniete sie ne¬ 
ben derselben nieder und heiße stumme 
Gebete drangen zum Himmel empor. 
Sie schüttete das bedrängte Herz vor 
Dem aus, den ihr ungetrübter Glaube 
Mer den Sternen wußte, und trug ihm 
alle ihre Wünsche vor mit der unge- 
heuchelten Frömmigkeit eines kind¬ 
lichen Gemütes. 
Das bleiche Mädchen bat um Rück¬ 
kehr des Verlobten und um Genesung 
der Mutter. Ihr Herz drohte zu ber¬ 
sten und die Brust wogte stürmisch auf 
und nieder, als sie sich zur Erde beugte 
und mit tränenerstickter Stimme die 
Worte über ihre Lippen preßte: „Herr, 
dein Wille geschehe!" 
Verzweiflung bemächtigte sich 
ihrer, als die Kranke sich unruhig hin- 
und herwarf und stöhnend den abwe¬ 
senden Schwiegersohn an ihr Bett 
berief. 
Unaufhörlich wütete das Unwetter 
mit stets wachsendem Grimme und 
kaum waren die dumpfen Töne zu un¬ 
terscheiden, welche die elfte Nachtstunde 
vom Glockenturm verkündeten. 
„Er kommt nicht — er kann auch 
nicht kommen!" redete Ludmilla mit 
sich selbst, indem sie aufstand. „Wie 
sollte man auch wagen, über die Ebene 
zu fahren bei diesem Wetter? Und doch 
hat er bestimmt versprochen, heute ein¬ 
zutreffen. Paul ist ein Mann von 
Wort. Er ist imstande, allein vom rus¬ 
sischen Grenzdorf herüber zu gehen zu 
uns. Um Gotteswillen, wenn er es 
wagte —" 
Das Geheul der Wölfe erscholl und 
neue Schreckbilder umgaukelten das er¬ 
regte Gehirn des armen Mädchens. 
Ludmilla rang nach Fassung und 
gewann äußerlich ihre Ruhe wieder. 
Sie beobachtete noch einen Moment die 
kranke Mutter und wendete sich dann 
zum Tische, um ihre Tätigkeit von 
neuem aufzunehmen. 
So wenig sie Lust dazu hatte, be¬ 
zwang sie sich dennoch. Sie wurde ru¬ 
higer und resignierter. Die hervor¬ 
quellenden Tränen zurückdrängend, 
griff sie zur Arbeit und begann hastig 
zu nähen.
	        
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