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Zohannisnacht.
Von M. Th. K.
Neben all dem schwärzlichen, schlan-
ken Getann steht einsam am Wald-
säume ein Eichenbaum, ein knorriger,
mächt'ger Geselle. In sein volles Ge-
zweige schlingt zärtlich eine Efeu-
ranke und dankt ihm, der ihr starken
Schutz gewährt, mit ihrem Geplauder
in müßiger Stunde.
Einmal, es ist Johannisnacht wor-
den, von ferne glimmen die Feuer und
eine weiche sehnsüchtige Stimmung
liegt über Wald und Flur, erzählt sie
also:
Schon lagerte Nacht ringsum auf
den Höhen — da sah ich einen Mann
längs des Flusses wandern, der hier
seine Fluten vorüberwälzt. Ich er-
kannte in ihm denselben Burschen, der
vor gar nicht langer Zeit unter deinem
Blätterdach so bitterlich geweint, als
man auf der Höhe gegenüber seine
Liebste zum Kirchhof trug. Jetzt ging
er einsam und traurig einher? er
¡ dachte wohl des vergangenen Jahres,
da er am heutigen Tag zum erstenmal
mit seinem Mädel durch das Feuer ge-
fprungeu war, und das ihm die Zeit
her so unendlich viel Leid gebracht
hatte. Da faßte ihn Verzweiflung und
seine Gedanken gingen wild, wie die
Waffer neben ihm.
„Nur einmal noch laß' mich hören
von dir," rief er in feinem Schmerz
zum Himmel hinauf.
Im selben Augenblick fiel ein Stern
nieder und darum auch sollte sein
Wunsch erfüllt werden. Allfogleich öff-
nete sich am Himmel eine Spalte und
so viel goldenes Licht floß daraus her-
nieder, daß es ihn blendete. Eine un-
sichtbare Hand brach ein Stückchen
Himmelsblau ab und fügte inmitten
ein kleines Sternlein und als es dicht
vor ihm zu Boden fiel, hörte ich eine
liebe Stimme sagen: „Vergißmein-
nicht." — Es war ein Blümlein dar-
aus geworden, als er es in die Hand
nahm, und getröstet zog er weiter.
Hier schwieg die Efeuranke? der
Nachtwind kam gestrichen und schüt-
telte ihr die Tränen aus den Blättern
und flüsterte leise: Vergißmeinnicht.
vie Europäer im Auge des Chinesen.
Wenn man die Meinungen oder Hand-
lungsweisen eines anderen als gänzlich
ausgefallen und ungewöhnlich bezeichnen
will., nennt man sie manchmal chinesenhast,
weil die Lebensgewohnheiten und Anschau-
ungen der Ostasiaten in so vielen Punkten
den unseren ganz entgegengesetzt sind. Ge-
nau so seltsam, wie uns die Chinesen vor-
kommen, erscheinen wir ihnen aber auch.
Ein englischer Missionär, E. I. Hardy,
führt hiefür in „Cambers Journal" eine
ganze Reihe schlagender Beispiele an, für
die er in Hongkong Belege gesammelt hat.
Vorweg sei bemerkt, daß manches, was die
Chinesen den Europäern nachsagen, ganz
unbegründet ist, während anderes wieder
ganz falsch und unverständlich ist. So Hal-
ten die Chinesen z. B. schwarzes Haar für
einen besonderen Vorzug der mongolischen
Rasse und bezeichnen alle Fremden als
„rothaarige Teufel". Den Bart der Euro-
päer verwerfen sie durchaus. Er erscheint
ihnen „affenartig". Ein Chinese sagte ein-
mal zu dem Missionär, er spräche chine-
sischi, und wenn er nun noch glatt rasiert
wäre, wäre er ebenso schön wie er selber!
In den Vorurteilen über den europäischen
Haar- und Bartwuchs werden die Chine-
sen von Kindheit an erzogen. Die euro-
päische Kleidung gefällt den Chinesen gär
nicht. Der Männertracht werfen sie vor,
daß sie zu eng anliege. Ein wohlhabender
Mann muß sich nämlich nach ihren An-
schauungen weite Gewänder leisten kön-
nen. Daß sie dagegen Kragen, Manschetten
und gestärkte Hemdbrust als unzweckmäßig
betrachten, wird ihnen mancher Europäer
nachfühlen können. So wenig sich die Euro-
päer zu kleiden wissen, so haben sie nach
chinesischem Urteil „gute Manieren". Die
Europäer tun sich immer etwas auf ihre
Kraft zugute (womit hauptsächlich Heer
und Flotte gemeint sind), währender Chi-
nese höfliches Betragen über Kraft stellt.
Vom höflichen Betragen aber weiß der
Europäer nichts: er schickt Missionäre nach
dem Orienjt, während es jeder Chinese als
aufdringlich verwürfe, etwa in Europa für
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