Volltext: Österreichischer Volkskalender 1936 (1936)

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„Leih mir das!" rief er dann und stürzte da 
von. Die Töne formten sich ihm schon zu einer Me 
lodie, und als er heimkam, schrieb er sie mit glü 
henden Wangen und leuchtenden Augen nieder. 
Um Mitternacht desselben Tages erstrahlte das 
Kirchlein von Arnsdorf im Hellen Kerzenschein und 
war bis zum letzten Plätzchen gefüllt, als die Mette, 
der mitternächtige Gottesdienst, begann. Es hatte 
sich schon am Tage herumgesprochen, daß keine 
Messe gesungen werden kann, weil die Orgel ge 
brochen war. Die tiefe Stille wurde nur von den 
Worten des Pfarrers und dem Gemurmel der 
Ministranten unterbrochen. Hin und wieder blät 
terte jemand vernehmlich in seinem Gebetbuch um. 
Plötzlich schwang sich ein voller Klang durch die 
Kirche. Ein schlichtes, frommes, seltsam ans Herz 
greifendes Lied ließ die Leute aufhorchen: 
„Stille Nacht! Heilige Nacht! 
Alles schläft. Einsam wacht 
Nur das traute, hochheilige Paar..." 
Seltsam ergriffen lauschten alle. Das war ja ein 
deutsches Weihnachtslied! Hell und voll, jubelnd 
und frohlockend schwebte die Stimme der Agnes 
über den Männerstimmen. 
„Christus, der Retter ist da!" 
Das war eine Melodie, die man leicht behielt. 
Und so summten bei der dritten Strophe schon 
einige mit. Es war keine Sensation, die das Lied 
auslöste. Still und schweigsam traten die Bauern 
nach der Mette den Heimweg an. Doch manches 
Auge nahm ein Leuchten mit sich und manchem 
Ohr klang die süße Melodie nach. Vernehmlich 
summte sie der Bürgermeister, als er mit seiner 
Tochter heimging. 
„Gelten S', Vaterl, der Herr Schubert aus Wien 
hat das Lied, wo wir heut g'sungen ham, sehr 
schön g'macht?" begann mit Herzklopfen Agnes 
ihre diplomatische Sendung. 
„Also, das is ein Volkslied", sagte er belehrend, 
„herentgegen der ,Erlkönig' ein Kunstlied is, folg 
lich es das Volk net singen kann. Aber das Volk 
kann a Volkslied singen, weil es für das Volk 
g'macht is, verstehst eh! Aber deswegn is es doch 
a große Kunst, nämli für den, der's macht. Als 
dann, der Franzi Schubert is ein Zeichen, daß so 
gar a Lehrer was können kann!" 
„Mir scheint, vor dem hat sogar der Herr Vater 
an Reschpekt." 
„No ja, gewissermaßen, obwohl er auch a spin- 
neter Teifi is. Wann er auf der Straßn geht, 
stacht und hört er nix net. Die Nasn in der Luft 
und die Händ' mit'n Huat am Rücken, so rennt 
er um. Aber a Künschtler derf des tuan, herent 
gegen sich so was für an, der nur a Lehrer is, net 
g'hörn tuat", schloß Pointner anzüglich. 
„Tat mir der Herr Vater an Künschtler erlaubn 
zum Mann?" 
„Dös wohl! Aber a wirklicher müaßt's sei, der 
so a ,Stille Nacht' machen kann oder so an ,Erl 
könig'", lachte Pointner überlegen. 
„Oder so an ,Sanktus', net?" 
„Jawohl! Aber so an findst net so g'schwind, 
und i rat' dir's guat: Nimm liaber den Binder 
Martin, Diandl!" 
„Alsdann, sagn mir so: Val i den Künschtler 
net kriag, nimm i den Martin. Js's so recht?" 
„Guat is's, Agnes!" rief er erfreut. „Also 'is es 
mit Handschlag ausg'macht." 
Das Jahr 1818 war müde geworden. Glück und 
Unglück, Freude und Leid hatte es gebracht, es 
hatte Menschen sterben und Menschen werden ge 
sehen, nun war seine Zeit abgelaufen. Und als die 
alte Turmuhr zu Arnsdorf raffelnd die zwölfte 
Stunde schlug, sank es in den Schoß der Ewigkeit 
zurück, während strahlend an Iugendfrische und 
Hoffnungsfreudigkeit ein neues heraufstieg und ju 
belnd begrüßt wurde. 
„Prost Neujahr!" rief der Franzl Gruber, „prost, 
liaber Herr Bürgermeister und Vater, prost, liaber 
Hochwürden!" und schlang seinen Arm um die 
Agnes und küßte sie ab. 
„Das Brautpaar soll leben, recht lang und recht 
glücklich!" sagte der Kooperator anstoßend. 
„Alsdann, was kann ma da machen!" brummte 
der Bürgermeister und hob sein Glas. „Richti is 
das net zuagangn, gelten S', Herr Kooperator. Sie 
sein mein Zeuge! Und daß sich der Zigeuner da — 
alsdann, jetzt is es gnua mit der Küfferei, ja? — 
daß der sich erlaubt hat, den Namen des Herrn 
Schubert zu mißbrauchen —" 
„Aber das war ja eine Kriegslist!" lachte Franzl. 
„Und die is erlaubt, gelten S', Hochwürden?" 
sagte Agnes. 
„A Betrug war's, net wahr, Herr Kooperator?" 
„Aber, Herr Bürgermeister! Ihr Herz weiß net, 
was Sie redn! Die Hauptfach' is doch die Tat 
sache, daß unser Franzl da den ,Sanktus' und das 
gemütvolle Lied komponiert hat! Können stolz sein 
auf ihn, das Lied wird man vielleicht in hundert 
Jahren noch am heiligen Weihnachtsfeste singen." 
„Das tut aber wohl!" lachte der Lehrer, „wenn 
einem endlich jemand den wohlverdienten Lorbeer 
überreicht!" 
„Hab' i Ihna net schon mei einzigs Kind über 
reicht? Was soll ma Ihna denn no überreichen? 
Is Ihna leicht die Agnes net gnua? Wird gern 
wieder z'ruckg'nommen!" 
„Also, überreicht Ham S' mir die Agnes grad 
net, i hab' sie mir schon selber nehmen müssen und 
gib s' a nimmer her, daß S' es nur wissen!" rief 
Franzl lustig. 
„Indem daß aber der Herr Franz Schubert aus 
Wien mein Freund is", sagte Pointner gewichtig, 
über welche Behauptung ihn seine Zuhörer an 
staunten, „werde ich ihm alsdann schreiben, daß 
man mir unter sein' Namen mei Tochter außer- 
g'schwindelt hat. Wenn er drüber lachen tuat, so 
sag i a nix mehr!" 
„Er wird schon lachen!" riefen die drei. 
„Alsdann, prosit Neujahr!" schmunzelte der Bür 
germeister und hell klangen die Gläser aneinander.
	        
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