Volltext: Österreichischer Volkskalender 1936 (1936)

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Es war schon spät am Abend, als Andrea von 
einem Freunde, den er besucht, zu seinem Hause 
heimkehrte. Sein Weg führte ihn an einem stillen, 
dunklen Kanal vorbei. Dicke, mit Efeu überhan- 
gene Mauern warfen selbst am Tage tiefe Schat 
ten auf das Wasser, und jetzt am Abend sah es 
wie ein tiefer Abgrund aus, den niemand ergrün 
den kann. Hier und da drang dn bleicher Mond 
strahl durch die Zweige der Akazien am gegen 
überliegenden Ufer und machte das ganze Bild 
nur noch unheimlicher und düsterer. 
Andrea war es sehr schwer ums Herz. 
Sein Triumph hatte mit Schmerz geendet. Er 
war mißmutig, nicht nur über die Berstümmelung 
seines Werkes, sondern mehr noch über die unge 
rechte Anklage Melchiors; denn er wußte, wie arg 
wöhnisch die Welt ist, und er bildete sich ein, daß 
schon kalte und zweifelnde Augen seine Gruppe 
mit weniger Vergnügen als bisher gemustert 
hätten. So wandelte er gedankenvoll weiter. Auf 
einmal glaubte er in einiger Entfernung verstoh 
lene Fußtritte zu hören. Unwillkürlich beschleu 
nigte er seine Schritte. Andrea war kein Feigling, 
aber der Weg war einsam und er selbst unbewaff 
net. Als er jedoch nichts weiter vernahm, stand er 
einen Augenblick still und blickte zurück. 
Da hörte er ganz deutlich, wie irgend ein schwe 
rer Gegenstand ins Wasser fiel. Sein erster Ge 
danke war, daß hier ein Unglücklicher seinem Le 
ben und Elend ein Ende gemacht, aber der Schall 
war so entfernt, daß er zweifelte. 
Langsam schritt er weiter, hörte aber nichts, was 
seinen Verdacht rechtfertigen konnte. Der Kanal 
lag ebenso ruhig Me vorher. Kein Seufzer, kein 
Laut stieg aus seinen düstern Tiefen empor. Es 
mußte ein Stein gewesen sein, der sich von der al 
ten, baufälligen Mauer gelöst hatte und ins Wasser 
gefallen war. Andrea glaubte dies und ging des 
halb ruhig seines Weges, bis er sein Heim er 
reichte, wo während seiner Abwesenheit Leid und 
Sorge eingekehrt waren. 
Zwei Tage später betraten bewaffnete Polizisten 
die Wohnung des Bildschnitzers von Brügge. 
Sie kamen, um den Herrn des Hauses, der des 
Mordes angeklagt war, gefangen zu nehmen. 
Seit jenem Streite in der Halle war Melchior 
Kunst nicht mehr gesehen worden, bis der Kanal 
heute Morgen feine Leiche ans Ufer schwemmte. 
Da erinnerte sich einer der vor Schrecken erstarr 
ten Umstehenden, daß er in der Nacht nach dem 
Streite Meister Andrea am Kanal hatte vorbei 
gehen sehen und etwas später Melchior Kunst ge 
folgt war. Ein anderer, welcher nahe am Wasser 
wohnte, hatte einen Fall gehört, sich aber weiter 
nicht daran gestört, weil er dachte, es sei sein 
Hund, der nachts oft durch den Kanal schwamm. 
Ein dritter war auch Meister Andrea begegnet, 
hatte aber sonst niemand gesehen. Doch diese Um 
stände genügten, um den unglücklichen Künstler zu 
verhaften. 
Die Häscher fanden ihren Gefangenen allein. 
Er saß da, den Kopf in die Hände vergraben 
und merkte ihren Eintritt nicht. Einer von ihnen 
legte seine Hand auf des Bildschnitzers Schulter 
und erklärte ihn als Gefangenen. Nun sah An 
drea auf, aber mit einem so geistesabwesenden, 
todesblassen Antlitz, daß der Polizist unwillkürlich 
einen Schritt zurücktrat. 
„Ein Gefangener?" sagte Andrea, ohne irgend 
welche Bewegung. „Was habe ich getan, wer klagt 
mich an?" 
Der Polizist war ein freundlicher Mann und er 
klärte Andrea so schonend wie möglich seinen Auf 
trag; doch mußte er ihn mehrere Male wiederholen, 
ehe Andrea etwas verstand. Endlich begriff er 
alles. 
„Also, man klagt mich des Mordes an", sagte er 
schaudernd, indem er sich erhob. Dann wandte er 
sich zu dem Polizisten und sprach: „Folge mir!" 
Dieser zögerte, aber Meister Andrea sagte: „Du 
brauchst dich nicht zu fürchten, ich bin unbewaffnet 
und denke nicht daran, dem Gerichte zu entgehen." 
Nun folgte der Mann seinem Gefangenen in ein 
dunkles Zimmer. Auf dem Bette lag eine bleiche 
Frau. Sie mußte sehr schön gewesen sein im Le 
ben; denn selbst im Tode sah sie noch lieblich wie 
ein Marmorbild aus. Ihr zur Seite lag ein Kind, 
die Blume einer Stunde, dessen kleine Seele die 
Welt bei Sonnenaufgang betreten und bei Son 
nenuntergang wieder verlassen hatte. Der Bild 
schnitzer deutete auf die Toten. 
„Sieh hier", sagte er, „mein Weib und mein 
Kind, und ich soll ein Mörder sein?" Seine Stim 
me wurde heiser, er breitete die Arme gegen sein 
totes Weib aus und dann fiel er zur Erde in hef 
tigen Krämpfen. 
Während der ganzen Zeit der Untersuchung hielt 
ein hitziges Fieber Andreas Sinne gefangen und 
gab seinem Äußern das Aussehen eines alten Mannes. 
Seine Freunde, und deren waren viele, nahmen 
seine beiden Söhne zu sich, aber von Gertrud 
wollte der Vater sich nicht trennen. Sie war ein 
schönes, liebes Kind, das Ebenbild ihrer Mutter. 
Ihre Augen waren von jenem tiefen Braungrau, 
welches man so selten bei Kindern findet, so dun 
kel, daß ein oberflächlicher Beobachter sie schwarz 
genannt haben würde. Ihr Haar hatte die Farbe, 
welche die alten Meister oft den Häuptern Christi 
gaben, und welche für den Maler die schönste aller 
Farben ist. Es gab der kleinen Gertrud das Aus 
sehen eines Engels. 
Das erste Zeichen wiederkehrenden Bewußtseins 
war, daß Andrea seine kleine Tochter wieder er 
kannte und ihren Namen rief. Es war derselbe, 
den ihre Mutter getragen, und dieses, verbunden 
mit der auffallenden Ähnlichkeit, war ein Trost für 
den verwitweten Vater. Er begann zusammenhän 
gend zu sprechen, zuerst mit Gertrud, dann mit de 
nen, die ihn besuchten. 
Doch als er sich soweit erholt hatte, daß er wie 
der aufstehen konnte, da war sein erster Gang zum 
Gefängnis.
	        
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