Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1931 (1931)

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„Maria hilf!" fleht sie in ihrer Angst. Da 
neigt sich das Bild noch mehr vom Postament, 
als wollte ihr die Madonna selbst den rettenden 
Gedanken eingeben, unter das Gestell aus 
Silberdraht zu schlüpfen, das ihr Mantel be 
deckt. Vorsichtig zieht sie das Bild ganz vom 
Sockel und läßt es, sich mit beiden Händen 
gegen das Innere der Glocke stemmend, über 
ihren schmalen Körper gleiten. Nun ist sie 
wohlgeborgen. 
-i- * 
* 
Der Kosak mit dem Feuerbrand hat am 
Fuße des Altares die goldene- Weltkugel ge 
funden. Begierig dreht er sie in seiner Hand 
und sieht, daß es Gold ist. Wo das ist, ist noch 
mehr, denkt er und leuchtet zur Madonna. 
Ihr Kleid ist mit Edelsteinen besetzt und aus 
dem Haupte trägt sie eine glitzernde Krone. 
Beutelüstern will er dannach greifen. Da 
bewegt sich das Bild und steigt vor seinen er 
schreckten Augen die Stufendes Altares hinab. 
Der Kosak fühlt, wie ihm die Haare zu 
Berge stehen. Die Fackel entsinkt seiner 
Hand. 
„Ein Wunder!" schreit er entsetzt mit 
überschlagender Stimme. 
Die Schläfer fahren auf von diesem Ge 
schrei. Wachen sie, träumen sie? Die Madonna 
kommt auf sie zu. Sie sehen es ganz deutlich 
im Mondenlicht, das durch die hohen Fenster 
quillt. Und diese wilden, bärtigen Männer er 
greift eine längstvergessene Kinderfrömmig 
keit. Nieder ins Knie sinken sie und bekreuzigen 
sich, während die Madonna mitten durch ihre 
Reihen aus der Kirche schreitet. 
Und noch zur selben Stunde verließen die 
Kosaken, ihre Pferde bescheiden am Zügel 
führend, das Gotteshaus und ritten noch 
mitten in der Nacht aus dem Dorf. 
Der Kommissär aber mußte unverrichteter 
Dinge nach Moskau zurückkehren. 
Es ist ein Schnitter, der heißt Tod 
Eine Weihnachtsskizze 
Eine leise Wehmut lag auf dem blassen 
Knabengesichte. „Mutter, wann kommt denn 
der Christengel zu uns?" 
Eine abgehärmte Frau fuhr sich über die 
Wangen. „Schau, Rudolf, das kann ich dir 
noch gar nicht sagen, vielleicht überhaupt" . . . 
sie sagte es nicht aus und kämpfte mit Tränen. 
Ticktack machte die Küchenuhr — ein schönes 
Stück — das Letzte aus guten, alten Tagen. 
Ein leises Hüsteln im Nebenraum und dann 
eine schwache Stimme. „Ja, Vater, ich bin 
gleich fertig!" Mit einer dünnen, leeren Suppe, 
die noch dampfte, eilte die Frau zum Bette 
ihres kranken Mannes. „Wie geht's dir? Bist 
noch immer so schwach?" Ängstlich fragte es 
die Frau. „Nein, es geht mir schon viel 
besser — dabei leuchteten die matten Augen 
des Fiebernden auf — „es wird bald vorüber 
sein . . . ." „Franz, Franz, tu' mir das nicht 
an", die arme Frau schluchzte laut auf — „ich 
verkaufe das Letzte, daß der Doktor noch ein 
mal kommen kann". Der Kranke hatte die 
Suppe ausgelöffelt und den mageren Leib 
in die dürftigen Kissen zurückgleiten lassen. 
Erschien wieder einzuschlafen. Das Einnehmen 
der Suppe hatte ihn zu arg angestrengt. 
„Mutter, schau, es liegt schon viel Schnee 
draußen und noch immer schneit es. Gelt, 
jetzt kommt ganz gewiß das Christkind!" Die 
blanken, guten Augen des Kleinen leuchteten 
warm auf. Jetzt sah er die Tränen in den 
Augen seiner lieben Mutter. „War ich bös, 
liebes Mutterl, weil du weinst?" Erschrocken 
richtete sich die arme Frau auf. 
„Nein, Rudolf, ich weine aus Freude, weil 
heute der Weihnachtstag ist. Aber weißt, ich 
muß noch einige Besorgungen machen und 
lasse dich mit Vater allein. Gib acht auf ihn, 
wenn er etwas verlangt. Ich bin bald wieder 
hier." 
Sie nahm einen alten, abgetragenen 
Mantel, band sich ein Wolltuch um und ging ... 
Der blonde Junge hatte sich ein abgegriffenes 
Büchlein geholt, das einzige, das ihm gehörte. 
„Aus der Weihnachtszeit", so hieß der Titel. 
Er hatte sich zum Herd gesetzt — noch knisterte 
ein halbverbranntes Holzscheit — und begann 
zum zwanzigstenmale das Märchen vom 
Christbaum zu lesen. Es wurde ihm wohlig 
warm, dazu tickte ganz sacht die Uhr und 
langsam fi-elen ihm die Augen zu. Und das 
Köpfchen sank auf die Stuhllehne zurück und
	        
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