Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1928 (1928)

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zwei, drei Schritte gegen mich und rief: ,Da 
ist er, der Mörder meines Kindes, was haben 
Sie mit Lili getan?' und dann zu ihrer 
Mutter gewandt: ,Er hat meine Lili ver 
giftet^, darauf fiel sie ohnmächtig, der alten 
Frau in die Arme. 
An das unmittelbar Folgende kann ich 
mich nicht mehr erinnern, ich muß wie ein 
Verbrecher geflohen sein. Erft in meinem 
Zimmer kam ich wieder einigermaßen zu 
mir; immer aber klangen Ernas furchtbare 
Worte in meinen Ohren, und ihre fast irren 
Blicke habe ich nie vergessen. Ich war wie 
betäubt und konnte keinen Gedanken fassen, 
sonst hätte ich im ersten Augenblick wohl 
Hand an mich, gelegt." 
Der alte Christian schwieg für kurze Zeit 
und fuhr dann fort: „Ernas Worte waren 
wohl im Schmerz gesprochen worden, doch 
sie hatte Zeugen gehabt. Möglich auch, daß 
Erna in ihrer Aufregung über den Tod des 
geliebten Kindes Haß gegen mich empfand 
und ihre Anklagen erneuerte. Ich weiß es 
nicht. In denkbar kürzester Zeit war der 
Vorfall in der ganzen Stadt Tagesgespräch. 
Am Nachmittag ließ mich der Staats 
anwalt, ein guter Bekannter von mir, zu 
sich rufen. Nicht als Beamter, sondern als 
Freund machte er mich auf das Gerücht 
aufmerksam und legte es mir nahe, energische 
Gegenmaßregeln zu ergreifen, wenn nicht 
mein Ruf unheilbaren Schaden leiden sollte. 
Ich aber sagte ihm die volle Wahrheit. 
Auf die Bitten der Mutter, die ich liebte, 
hatte ich ein todkrankes Kind, für das es 
keineHilfemehrgab,von furchtbaren Schmer 
zen befreit, aber — als Arzt schwer gefehlt. 
Erschreckt fragte mich der Staatsanwalt: 
,Kannten Sie die Tragweite Ihres Tuns?' 
Bevor ich Antwort gab, sprach er weiter: 
,Es ist nicht an mir zu urteilen, aber der 
Weg, den meine Pflicht mich gehen heißt, 
ist genau vorgeschrieben.' 
Langsam ging ich nach Hause. Ich war 
ruhiger geworden und sah klar in die Zu 
kunft. Erna zürnte ich nicht, die Liebe zu 
ihrem Kind duldete nichts neben sich. 
Meine Praxis trat ich wieder an. Dann • 
kam die Verhandlung. Wieder sprach ich 
die nackte Wahrheit. Unter Zubilligung von j 
verschiedenen Milderungsgründen erkannte 
das Gericht auf ein Jahr Gefängnis; ebenso | 
wurde das Verbot, je wieder die ärztliche! 
Praxis auszuüben, ausgesprochen. 
Erna sah ich nicht wieder. Während ich 
meine Strafe verbüßte, erlag sie einer 
Lungenentzündung. 
An einem sonnigen Maitag war ich 
wieder ein freier Mann, doch der Frühlings 
glanz, der auf den Gesichtern aller Menschen, 
die mir begegneten, lag, leuchtete mir nicht. 
Ich hätte wohl auswandern können, um 
in fernen Landen wieder meinen Beruf 
ausüben zu können, aber da wäre ich bald 
dem Heimweh erlegen. 
Zwei Jahre fristete ich mein Leben als 
Sprachlehrer in einer Schweizerstadt, dann 
zog es mich mit tausend Gewalten zur 
Krankenpflege. Ich hatte den Mädchen 
namen meiner Mutter angenommen und 
trat kurz entschlossen in ein großes Kranken 
haus als Wärter. Eine Notlüge befreite 
mich von dem Vorlegen von Papieren. Zehn 
Jahre war ich auf jenem Posten, dann kam 
ich in diese Stadt, wo ich neunzehn Jahre 
im alten und seit zwei Jahren im neuen 
Spital bin. 
So habe ich wenigstens auf diese Weise 
der kranken Menschheit meine Dienste wid 
men können." 
__ Der alte Christian war zu Ende. Tiefe 
Stille herrschte wieder im Zimmer, nur das 
leise Ticken der Uhr und dann und wann ein 
Knistern und Knacken im Getäfel waren 
hörbar. 
weiteres. 
Ein edler Freund. „Sag' mir .mein Freund, Gemütsruhe. Ein Geschäftsreisender kommt 
was ich tun soll? Soll ich die arme kleine, rei- in einem Landstädtchen schwitzend und unter 
zende Ilse heiraten oder die häßliche, nnsympathi- seinem Gepäck keuchend dahergerannt und fragt 
sche, aber reiche Rosa?" — Freund: „Du bist ein einen behäbigen, vor seinerTür stehenden Bürger: 
ideal veranlagter Mensch. Nimm die Ilse, die „Sagen Sie mir ich möcht' gern zum Bahn- 
du liebst. Mit der Rosa habe ich mich übrigens Hof." Der Bürger ruhig: „Da habe ich gar nichts 
gestern verlobt." dagegen."
	        
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