Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1905 (1905)

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gelobte. Der Herr sah auf die Gabe nieder 
und segnete sie. 
„Stephanie, ich soll blind werden, ganz 
blind." 
Die Tochter gab keine Antwort. 
„Kind, ich will fort." 
„Wohin willst du, Mutter?" 
„Ich will sehend werden, wenn es nicht 
schon zu spät ist. Ich will den Arzt auf 
suchen und mich operieren lassen." 
„Dank dir, o Gott, wie bist du gut." 
„Was sagst du, Kind." 
„Mutter, Gott hat mich erhört." 
Hätte die Gräfin das Antlitz des Kindes 
sehen können, sie hätte mit Rührung die ' 
Der Hochsommer ist vorüber, die Zeit, 
da die Jugend sich ausgetobt in heiterer 
Ferienlust. Die Schulen füllen sich mit 
Lernlustigen, die Institute bevölkern sich, die 
Arbeit der Erziehung beginnt. 
Eine Stunde von der Bahnstation abseits, 
dem lauten Getriebe der Welt ferne, steht 
inmitten grünender Hügel ein Mädcheu- 
institut. Klosterfrauen aus dem Mutter 
hause der Residenzstadt leiten Erziehung 
und Unterricht. Die gesunde Lage, die vor 
zügliche Ausbildung, die den Zöglingen 
gewährt^ wird, füllt das Heim bis zum 
letzten Plätzchen mit frohen Mädchenköpfen. 
Die Eltern wissen ihre Kinder dort gut ge- 
Die Mutter sah und zog Stephanie an ihr kserz. 
Weihe der Dankbarkeit, die aus den Zügen 
strahlte, geschaut. So aber sah sie das Kind 
nicht. Aber der Herr sah es, der im Er 
hören ein Herz glücklich gemacht 
Die Operation gelang. Die Mutter sah 
und zog in seligem Glücke Stephanie an 
das Herz. 
„Nun wollen wir beisammen glücklich 
sein, bis uns Gott trennt." 
Stephanie antwortete nicht, sondern sah 
mit großem Blick in das Augenlicht der 
Mutter. Dann ging sie in ihr Zimmer 
und weinte. 
Seitdem sind zwölf Jahre vergangen. 
borgen und übergeben sie sorglos den mild 
waltenden Händen der Schwestern. 
Und heute ist der Tag, da sie kommen 
aus aller Welt, gleich jungen Wandervögeln 
und hier fast ein Jahr ein liebes Nestchen 
suchen. Die große Türe des Institutes öffnet 
sich jeden Augenblick, Wägen fahren vor, 
aus denen ein Vater oder eine Mutter 
mit einem Mädchen steigt, an die Pforte 
tritt und nach Schwester Oberin Nach 
frage hält. 
„Sie ist im Sprechzimmer, dort links," 
die Hand der Pfortenschwester weist auf 
die genannte Stelle. 
Man tritt ein und findet Schwester 
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