Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1904 (1904)

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Der Sturm tost noch mit gleicher Gewalt 
und knickt die Bäume im Hochwald droben, 
als ob sie dürres Reisig wären. 
Da dringt ein Ruf durch das Brausen 
des Sturmes und pflanzt sich fort von 
Mund zu Mund: „Der Bach kommt, der 
Bach kommt!" 
Schreckensbleich ruft es eins dem anderen 
zu, alle Hände regen sich, zu retten, was 
noch zu retten ist. Der Bach war ausge 
treten, und wild tobend brach er sich Bahn, 
Bäume und Felsblöcke mit sich führend. 
Machtlos standen die Menschen dem ent 
fesselten Elemente gegenüber und mußten 
zusehen, wie die mühevolle Arbeit langer 
Jahre in einigen Augenblicken vernichtet und 
zerstört wurde. 
Der Lenzbauer hatte es gut auf seinem 
Hofe. Weitab vom Bache war er außer 
aller Gefahr und doch zitterte er an allen 
Gliedern und schaute angstvoll bald ins Tal 
hinunter, dann wieder die Höhen hinan. Was 
wäre es um Haus und Hof gewesen! Ihm 
bangte um sein Kind. 
Mit seinen Leuten war er ins Dorf hinab 
geeilt. Vielleicht konnten sie dort Nachricht 
geben von Vroni. Doch kein Mensch wußte 
etwas von dem Mädchen. Einige Leute, 
welche von der Arbeit heimkehrten, hatten 
Vroni wohl gesehen, wie sie der Richtung 
des Habachtales zueilte, doch mehr konnten 
sie ihm auch nicht sagen. 
Diese Nachricht war traurig genug. Durch 
dieses Tal nahm ja der Bach seinen Lauf 
und Gnad' Gott jedem, der dorthin kam. 
„Hier ist Gold, ihr Leute! Es gehört 
dem, der mir mein Kind bringt." Wie das 
Gold funkelte und gleißte in des Lenzbauers 
Hand, doch niemand wollte ihm sein Gold 
abnehmen. 
Verzweifelt sah der Bauer darauf nieder. 
Sollte es ihm zum Fluche werden, weil er 
um des Goldes willen einem armen, braven 
Menschen namenloses Leid bereitet hatte? 
Und sollte auch sein Kind daran zu Grunde 
gehen? 
Der Bauer schaute in die schmutzige Flut, 
welche sich wild schäumend daherwälzte, Tod 
und Verderben bringend. Alle Schreckens 
bilder durchzogen seine Seele. Er sah Vroni 
tot, fortgerissen vom Wasser, an einer Fels 
wand zerschmettert. Ihn schwindelte, er ver 
mochte sich kaum aufrecht zu erhalten. 
„Wer mir mein Kind bringt — tot oder 
lebendig — dem gehört Haus und Hof!" 
Er rief es, und die Angst gab seiner 
Stimme Kraft, daß sie das Tosen des Wild 
baches übertönte. Das war ein Wort, das 
sonst wohl hundert Hände in Bewegung 
gesetzt hätte. Und trotzdem beeilte sich heute 
keiner der Burschen, der Aufforderung nach 
zukommen, denn fast jeden hatte das Un 
glück getroffen, und jeder mußte für sich 
selbst sorgen. Auch sahen es alle ein, daß 
es unmöglich sei, dem Mädchen zu Hilfe 
zu kommen. Für eine nutzlose Sache wollte 
keiner sein Leben aufs Spiel setzen. 
Droben im Hochwald hatte der Bach noch 
mehr Unheil angerichtet als im Tale unten. 
Die Straße, welche dem Wasser entlang 
führte, war vollständig unterschwemmt, das 
Erdreich nachgestürzt, so daß von einem 
Wege nichts mehr zu sehen war. Nur der 
schmale Fußpfad war noch gangbar, weil 
das felsige Gestein ihm festen Untergrund 
gab 
Hastend eilte eine Gestalt den Weg hinan, 
es war Vroni. Unheimlich rauschte das 
Wasser zu ihr herauf, die Steine zerbröckelten 
unter ihren Tritten und fielen aufklatschend 
in weitem Bogen in den wild schäumenden 
Bach. Ueber sie hin raste der Sturm, Vroni 
achtete es nicht. Für sie gab es kein „Zurück" 
mehr, nur vorwärts, vorwärts. Eine Furcht 
allein kannte sie. Es war die, Vestl nicht 
mehr zu finden. 
Dieser stand in einer Felsenhöhle und 
sah auf das Treiben des entfesselten Wassers 
nieder. Er konnte nicht mehr weiter, denn 
der Steg, welcher über den Bach führte, 
war fortgeschwemmt worden. Er mußte an 
dem geschützten Platze aushalten, und wenn 
das Wetter vorüber war nach einem anderen 
Uebergange suchen. 
Forschend schaute sein Auge umher, da 
sah er den Felsweg herauf eine Gestalt 
eilen. Er starrte hinunter, seinen Augen 
nicht trauend. 
„Vroni!" wollte er rufen, doch der Schrei 
erstickte in seiner Kehle. Krachend schlug 
ein Blitz in die Tanne ein, an welcher das 
Mädchen soeben vorüberschritt, daß die
	        
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