Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1904 (1904)

vorwärts, heraus aus dem Sarge, hinaus 
ins Leben. Wer geht neben ihr? Er, den sie 
gleichgiltig neben dem Sarge sah. Sie will 
zurück, fort von ihm. So geht sie gedanken 
los, halb noch träumend in den Saal. 
Die Musik, die noch geschwiegen, beginnt, 
die Lust ruft zum Tanz. Sie weiß nicht, ob 
sie wacht oder träumt. 
Da fühlt sie seine Hand, sie ruft: 
„Ich will nicht." 
Er zieht sie fort in den Reigen der Lust 
hinein. 
Die leichte Musik rauscht mit ihnen fort. 
Lina kann nicht empor schauen, e r ist neben 
ihr. Träumt sie? Nein, sie lebt, es ist Wahrheit. 
Schneller und schneller wiegt sich die Welle 
des Tanzes und reißt ihr Opfer fort. 
Alles schwindelt vor den Augen des Mäd 
chens. Alles bewegt sich, sie fliegt weiter an 
den Spiegelwänden, immer wieder ihr Bild 
schauend und das — seinige. 
„Lina, Lina," flüsterte er. 
„Ich will nicht, ich will nicht," zittert ihre 
Stimme. 
„Du mußt," kommt die Antwort zurück. 
Lina wird bleich. 
„Ich kann nicht mehr." 
„Du mußt, du mußt." 
Er reißt sie hinein in die Wogen der Lust. 
Ihr Herz hämmert, sie wird rot und 
bleich, sie friert, sie glüht. 
Und schneller, immer schneller fliegt der 
Flug, immer vorwärts, vorwärts. 
..Ich . •" 
Sie kann nur soviel noch sagen. 
„Du mußt, du mußt." 
Noch stürmischer fliegt der Tanz, die Musik 
spielt den „Steppenritt." Wie das Pferd voran 
fliegt mit dem Reiter, gefolgt von der Schar 
der Schakale, stürmt vorwärts der Tanz. 
Aus der Ferne sieht die Mutter lächelnd 
zu: Nun, mein Sieg ist vollendet. 
Sie denkt an blinkendes Gold, an den 
Judaspreis, um den sie das Kind verkaufte, 
das Kind ihres Blutes. 
Da gellt ein Schrei durch den Saal, leb 
los stürzt Lina aus den Händen des Tän 
zers zu Boden. 
Die Paare wogen vorüber, als ob nichts 
geschehen sei. Man trägt die Tote hinaus 
ins Nebenzimmer. Wer will sie wieder 
beleben? Vergebens, sie ist tot. 
Die Musik hat beendet, der Steppenreiter 
ist angelangt in der Oase. 
„Sie ist tot," flüstert man sich im Saale zu. 
„Tot, das herzige Kind?" 
„Ja, tot. Er hat sie in den Tod getrieben." 
„Und ihre Mutter." 
„Ihre Mutter?" 
„Ja, sie war es."— 
Früher als sonst endete der Ballabend, 
aus dessen Lust ein Opfer als Leiche fort 
getragen wurde. 
Lina liegt im Saale aufgebahrt. Hohe Pal 
men und silberne Leuchter stehen neben dem 
Sarge. Die Tote ist tot, nun träumt sie 
nicht mehr. Vor einer Stunde noch, vor drei 
Stunden hat sie ihren Tod geträumt, nun 
ist der Traum Leben geworden und Tod. 
Neben dem Sarg kniet die Baronin und 
weint, sie sieht ihre Schuld ein, das eigene 
Kind und sein Leben um Gold verkauft zu 
haben. Was nützen die Tränen, die Tote 
können sie nicht mehr lebendig machen. 
Die Baronin sühnte die Schuld. Seit jener 
Stunde ist sie eine wahre Mutter geworden, 
die ihre Pflicht heilig hielt. 
Auch er kam zum Sarge. Er lächelte. Es 
lag etwas Gleichgiltiges in diesem Lächeln, 
der Hohn des Unglaubens. — 
Durch das Leben des Menschen geht oft 
ein Ahnen der Zukunft. Der Herr sendet 
seine Boten aus, daß der Mensch bereit sei, 
wenn der Ewige selbst kommt, ihn zu rufen 
zum großen Tage. 
Oeffne dein Auge, Menschenkind! Ist nicht 
dein Leben selbst, das du Leben nennst, das 
Ahnen der Ewigkeit? Was du hast und bist, 
ist göttliche Liebe, das Ahnen der ewigen 
Liebe ist dein Leben. Dein Leben ist dein 
Traum, dein Traum dein Leben. 
Hast du rein geträumt auf Erden 
in reinem Leben, dann wohl dir! 
Dein reines Leben warderTraum, 
in dem du deinen Himmel geträumt. 
Träume rein, der Himmel ist soschön.
	        
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