Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1902 (1902)

(128) 
Schmerz des Mutterherzens und überströmte 
es mit Trost und Gnade. 
VII. 
O wie langsam die Stunden vergangen, 
wie langsam die Tage, in denen Paulin so 
zusagen Witwe war. Der Grafenjäger war 
zu drei Jahren verurtheilt worden. Wie sie 
für ihn betete! Sie war eine andere geworden 
im Schmerz. Ueber gar manchen Menschen 
muss erst der Schmerz, das bittere Weh her 
ankommen, dass sein Herz den wahren Weg 
zum wahren Glück finde. Wie ganz anders 
dachte jetzt Paulin. Ein anderes Leben schien 
sie zu leben. 
Der Grafenjäger war vom Dienst ent 
lassen worden. Einen Verbrecher konnte man 
doch nicht in gräflichen Diensten dulden. 
Paulin zog ins Haus ihres Vaters, dort 
blieb sie, bis Heinrich zurückkäme. Dann 
müsse sich jedenfalls die Zukunft der Familie 
entscheiden. Beim Glöcklwirt schien alle Heiter 
keit fortgezogen zu sein. Der Wirt hat den 
„Unternehmungsgeist" verloren, den man 
früher bei ihm so sehr hervorgehoben. 
Paulin arbeitete im Zimmer, an ihrer 
Seite saß Annerl, das blinde Kind. Welcher 
Trost wäre es für die Mutter gewesen, nur 
einen Blick aus diesen Augen lesen zu können ; 
sie waren für immer geschloffen. 
Für immer? Maria hilf! — 
Monatlich durfte Heinrich in die Heimat 
schreiben. In die Heimat? Hatte er, der 
Verbrecher, noch eine Heimat? Durfte er sich 
noch einmal zeigen im Dorf? Nein, er hätte 
es nie gewagt. 
Sein Kind lebt. Er hatte es erfahren, 
als er sich in Untersuchungshaft befand. 
Hatte er das Recht, dieses Kind noch sein 
Kind zu nennen, dem er gar kein Vater ge 
wesen ? 
Und Paulin? Wird sie ihm verzeihen, 
verzeihen können? Sie hat ihm verziehen. 
Das Kind auf dem Arm hatte sie gewartet, 
als man ihn fortführte vom Gefängnis. Sie 
wäre auf ihn zugeeilt, aber man hielt sie 
zurück. Und doch hatte er sie gesehen, aber 
er kannte es nicht, ob sie ihm verziehen, ob 
dieser Blick Milde, ob er Verzeihung verkünde. 
Vorwurf auf Vorwurf stiegen vor seiner 
Seele auf, aber er hatte nicht den Muth, 
gänzlich mit seiner Vergangenheit zu brechen, 
ganz ein anderer zu werden. 
Er musste arbeiten. Zuchthausarbeit, der 
Grafenjäger. Wie sich alles in ihm bäumte, 
wenn er an das Wort „Zuchthaus" dachte. 
Er, der stolze Grafenjäger. 
Grafenjäger? Er war es ja nicht mehr. 
Mit Schanden war er ja aus seinem Dienst 
entlassen worden. Nun war er brotlos. 
Brotlos? Und daheim das Weib, das 
Kind! Wer sorgt für sie? 
Ehrlos, brotlos! Die ganze Zukunft 
ekelte ihn an, er nahm alle Kraft zusammen, 
nicht mehr an sie zu denken. 
Und doch musste sie kommen, wieder 
kommen, die düstere Zukunft. Er hätte am 
liebsten nichts mehr gewusst von der Außen 
welt, im Gefängnis wäre gerade für ihn der 
rechte Platz gewesen, sein Andenken zu ver 
wischen: Wer wird noch reden von ihm? 
Aber diese engen Mauern, diese feuchte 
Luft. Er, der freie Vogel, gefangen, beraubt 
der Freiheit. 
Wie wird der Wald jetzt draußen so 
traut und freundlich rauschen. Es überkam 
den Gefangenen Heimweh nach der sonnigen 
Welt, nur Freiheit, eine Stunde Freiheit! 
So sann er hin und her, als ein Brief 
für ihn kam. Er kannte die Züge, der Brief 
war von Paulin. Die Hand zitterte, als er 
öffnete. Paulin hat recht, wenn sie niemals 
sein Antlitz sehen will. Fieberhaft flog der 
Blick über die Zeilen.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.