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noch jugendlichen Besuchers verrieth ein
falsches Herz, der wirre, unbeständige Blick
war die Sprache eines haltlosen, unehrlichen
Charakters. Doctor Lehmann erwies diesem
Besucher gegenüber sich besonders freundlich,
Frieda zitterte für Karl, so oft sie ihn in
der Nähe des Verdächtigen wusste.
„Wer ist dieser Herr", frug Frieda, als
Karl den Gast die Stiegen hinabgeleitet
hatte, „Karl, wer ist es?"
„Baron Silberstein ist sein Name. Er
ist ein heiterer, intelligenter Kopf."
„Du scheinst ihm gut Freund zu sein,
Lieber?"
„Ja, Frieda, mich spricht sein Be
nehmen an."
„Karl, ich fürchte für dich, Baron Silber
stein scheint mir ein falscher Mensch zu sein,
denn er hat einen falschen Blick. Hüte dich,
Karl!"
Frieda hatte Karls Hand erfasst und
sah bittend zu ihm auf. Karl schien verlegen.
Eine seltene Nöthe lagerte über seinen
Wangen. Frieda bat inniger. Lehmann sah
erregt vor sich hin. Er löste seine Hand
aus der Friedas.
„Weibergebettel", war sein halblautes
Wort, als er das Zimmer verließ und in
den Salon trat.
Abends gieng Karl wieder in die Gesell
schaft, Frieda wachte, betete und weinte.
Ja, Frieda hatte der Ursache genug, für
ihren Gatten zu beten. Trügerischer Schein
hatte ihn in ein Netz gelockt, das ihn nicht
sobald wieder freigeben sollte. Ein Berufs
college hatte Karl in die Gesellschaft ein
geführt, die seinen Fall herbeiführen sollte.
Im Hotel N. kam fast täglich zusammen,
was sich da mit so besonderer Vorliebe „In
telligenz" zu nennen liebte. Es waren meist
jüngere Leute. Karl gefiel es. Der gute Ton
sagte ihm zu, in den sich der Spott über
religiöse Dinge klug zu bergen verstand.
Ja, man war vorsichtig genug, in den ersten
Wochen jede unanständige Bemerkung aus dem
Gespräche zu bannen, man sprach über Gleich-
gütiges, über Tagesnenigkeiten. Warum soll
ich nicht auch ein wenig mich bekannt machen,
war der Gedanke Karls. Und Karl kam,
immer wieder kam er, er hatte ja nichts zu
befürchten.
Und dennoch träufelte allmählich jeder
Abend seinen Gifttropfen in das Herz des
Arglosen, ganz langsam, fast ohne dass er
selbst es merkte, wandelte sich Karls Gemüth,
seine Gedanken wurden freier, sein Urtheil
über sich milder, er entschuldigte, was sich
zuweilen als Gedanke ins Herz schlich und
so gieng es langsam abwärts — in den
Abgrund. —
Bist schon lang genug ein Strohhalm
spalter gewesen, dachte Karl, wenn er seine
bisherigen Anschauungen mit denen seiner
Tischgefährten verglich. Wozu bist du ein
freier Mann? Man kann ja immer noch
der beste Kerl sein, ohne dass man deshalb
immer hinterm Ofen und in der Kirche
hockt. . . .
Der Sprecher hatte seine Gedanken halb
laut vor sich hingelispelt, als eine elegant
gekleidete, hagere Gestalt auf seine Schulter
klopfte und ihn ansprach:
„Das sind einmal Gedanken, die eines
freien Mannes würdig sind . . ."
Und dennoch war Karl verlegen, dass
man seinen Gedankenausdruck vernommen.
Er gab dem Collegen die Hand, beide ließen
sich auf einer der Bänke nieder,
„Grüß dich Gott, lieber Silberstein.
Schon lange hatte ich keine Gelegenheit mehr,
ein wenig mich auszuathmen. Dies Plätzchen
suche ich immer wieder gerne auf, denn hier
schaut man so frei in die Welt, auf einige
Augenblicke ledig aller Bande, um dann
wieder in die alte Prosa der Berufsgeschäfte
zurückzukehren."
Hatte jemals solch ein Wort sich über
die Lippen Karls den Weg gebahnt? Sprach
nicht aus ihm ein Widerwillen gegen seinen
Beruf? War dieser Karl noch der ganze
Sohn seines unermüdlichen, seligen Vaters?
„Ja, Freundchen, da blüht mir ein
ganz anderes Leben. Was weiß ich von
Bernfsbeschwerden! Bei mir geht ein Tag wie
der andere sorgenfreiund lebenslustig vorüber."
Der Baron schilderte in lebhaften Worten
sein Tagein-Tagaus, sein Tagewerk von früh
morgens bis spät abends und fand der Worte
fast nicht genug, in die er seine Gedanken
kleiden sollte. Karl lauschte. Ernst sah er
hinaus in das weite Thal, das die duft
blauen Berge umrahmten, das so schön