Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1898 (1898)

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Gottes Fügungen sind wunderbar! 
(Nachdruck verboten.) 
Herr> führe uns nicht in 
Versuchung. 
foctor Lehmann stammte aus 
einer angesehenen Familie 
der Stadt S. Sein Vater 
hatte durch viele Jahre als 
Stadtarzt sich einen guten 
Namen erhalten und als man 
ihn, der so vielen ein treuer 
Helfer gewesen, hinaustrug 
auf den Kirchhof, folgte seinem 
Sarge eine Menschenmenge, 
die der schönste Erweis für 
|i| die Beliebtheit des Heim- 
* gegangenen war. An die Stelle 
des Vaters trat der Sohn, der von jenem nicht 
nur die reichste Befähigung für den Beruf 
des Arztes, sondern auch die tiefe Fröm 
migkeit und den milden Sinn gegen die 
Armen ererbt hatte. Doctor Lehmann hatte 
als Gattin noch zu Lebzeiten des Vaters, 
leider nicht mehr der Mutter, Frieda Doller 
heimgeführt. Das Mädchen war wohl ohne 
Vermögen, doch der häusliche Sinn und das 
fromme Gemüth ersetzten, was manch' anderes 
Mädchen an Geld mitgebracht hätte, vollauf. 
Und so kam es, dass das Heim des jungen 
Doctors gar bald ein Heim reinsten Glückes 
und schönster Harmonie ward: Der warme 
Sonnenschein inniger Gläubigkeit und wahrer 
Religion beglückte und einte beide Herzen. 
Und dann kam der Lenz, der schöne, 
goldige Lenz, mit seinen Gaben und als am 
Fensterstock die ersten Rosen blühten und 
hereinlachten in das Heim des Doctors, lag 
in der Wiege der erste Sprössling, der da 
natürlich des Vaters Namen erben musste. 
Und kam der Vater abends von seinem Rund 
gang zu den Patienten heim, o mit welcher 
Vaterfreude drückte er da seinen kleinen, 
herzigen Doctor Karl an sich. Ja, alles 
hätte er hin gegeben für seinen Liebling in 
der Wiege. Warmer Dank stieg täglich auf 
zum Himmel aus den Elternherzen für das 
Geschenk des Himmels; das Kind war ein 
neues Band geworden, das Vater und 
Mutter miteinander und mit dem Himmel 
einte. Mit Freude kam der Doctor seinem 
oft schwierigen Berufe nach, da er ja 
auf Erden ein süßes Kleinod sein wusste, 
sein Kind. 
So giengen zwei, drei Jahre vorüber. 
Der kleine Karl marschierte schon im strammen 
Schritt an der Hand der Mutter, dann 
mählich selbständig umher, setzte die kleinen 
Bleisoldaten auf und ward immer mehr 
Augapfel der Mutter. Doch langsam ward 
es anders. Sonst war Lehmann abends 
zuhause geblieben, jetzt ward dies immer 
mehr und mehr Seltenheit: der Anstand 
erforderte es, war die Entschuldigung Karls 
Frieda gegenüber, dass er in die Gesellschaft 
gienge, auch sein Vater habe dies gethan. 
Die Gattin schwieg. Ihr galt es Ent 
schuldigung genug, was ihr Gatte vorgab, 
sie blieb daheim und spielte mit dem Kinde. 
Bisher war stets am Sonntag Karl mit 
Frieda in die Kirche zum Gottesdienst ge 
gangen, warum fand er jetzt so selten, fast 
nie mehr Gelegenheit dazu? Wie oft hatte 
der Vater dem Kinde das Kreuzzeichen ans 
die Stirne gemacht, jetzt hatte er niemals 
Zeit dazu oder wollte er nicht? 
Frieda war ein zu wachsames, tiefes 
Herz, als dass sie die langsame Umwandlung 
im Wesen Karls nicht bemerkt hätte. Es 
war der erste Schatten, der über ihr Herz 
hereinzog, seitdem sie mit Karl vereint. 
„Karl, vergisst du deines Lieblings 
ganz, du bist nicht mehr der gleiche Vater. 
Karl, was hat dein Wesen so umgewandelt?" 
„Du hast dich getäuscht Frieda, ich bin 
der gleiche, doch die Berufsgeschäfte. . . ." 
Ein ernster, verlegener Blick, dann wieder 
Stillschweigen auf Tage. 
Oftmals, öfter denn früher, kamen außer 
geschäftliche Besuche. Frieda kannte sie nicht, 
doch bald empfand sie, dass es Freunde 
waren, die sicher nicht besten Einfluss auf 
ihren Gatten ausüben konnten. Sie sann 
nach, sie betete, sie weinte. 
Besonders eine Gestalt war es, die Frieda 
scheute, wenn sie vorsprach. Das Auge des
	        
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