Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1897 (1897)

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Und sie fasste ihn roh am Arme, überhäufte ihn 
mit Schlägen und warf ihn vor die Thür. 
„Da! jetzt geh hin zur Kirche und lass dich nicht 
mehr vor meinen Augen blicken! Den ganzen Tag 
von Kirche und Engeln reden hören, das wäre mir 
ein angenehmes Leben!" 
Karls Kopf schwindelte, sein Herz begann zu un 
terliegen, kaum mehr vermochte er sich aufrecht zu 
halten; so wankte er fort und fragte jeden, der ein 
irgend menschenfreundliches Aeußere zeigte, wo denn 
die Kirche zu finden sei. So traf ihn der Engel. Er 
wendete seinen Diamanten an und sah in diesem 
Kindesherzen eine solche Fülle des Kummers, dass es 
kaum glaublich schien, wie ein so kleines Herz ihn 
fassen könne. 
Schon meinte der Engel, seine Sendung sei nun 
erfüllt. Aber der liebe Gott sagte ihm etwas, was er 
nicht sogleich begriff, jedoch er zögerte . . . 
Hier endlich ist sie, die Kirche! sie ist offen, man 
trifft Vorbereitungen zum nächtlichen Gottesdienst. 
Der Knabe tritt ein, er sieht die Statue der heiligen 
Jungfrau und das Jesukind. Er kennt das alles nicht, 
aber er ahnt es. Vor ihm ist der Tabernakel, er weiß 
nichts davon, aber er fühlt es, wer hier wohne. 
In diesem Augenblick schaut der Engel im Scheine 
des Diamanten in die Zukunft. Er sieht einen jungen 
Mönch vor demselben Tabernakel stehen. Jugend 
und Entsagung verleihen ihm einen Zug von jener 
Schönheit, unbekannt auf Erden, die aber ein Abge 
sandter des Himmels unschwer erfasst. Und das An 
gesicht, welchem diese übernatürliche Schönheit, an 
haftet, ist Karls Angesicht! 
„Herr des Himmels," sagte der Engel, „jetzt 
verstehe ich dich: nicht um seiner selbst willen soll ich 
dieses Kind hier lassen, sondern um deinetwillen, auf 
dass er ein Engel auf Erden werde!" 
„Auf, gläubige Seeleu, singet Jubellieder 
Und kommt alle nach Bethlehem!" 
Eine armselige, alte Drehorgel, heiser und 
schwindsüchtig, lässt in der Straße dieses Weihnachts 
lied ertönen. 
„Christus, der Heiland stieg hernieder: 
Kommt, lasset uns anbeten unsern Herrn!" 
„Wer mag es doch sein," frägt sich der Engel, 
„der so von meinem Könige spricht?" 
Ein Knabe drehte mühsam die Kurbel der 
Orgel. Er war schön, aber ganz bleich und kaum 
nothdürftig mit elenden Lumpen bedeckt. Seine kleine, 
eiskalte Hand, sein erschlaffter Arm drohten ihm den 
Dienst zu versagen. Indessen, er drehte immer und 
immerfort. Denn er hatte im ganzen Tag nur sieben 
Pence zusammengebracht und er wusste, dass er, 
wenn er nicht einen ganzen Schilling heimbringe, 
nichts zu essen und überdies wahrscheinlich Schläge 
bekommen werde. 
Zahlreich waren die Vorübergehenden. Der eine oder 
andere blieb einen Augenblick stehen und warf einen 
Blick auf den kleinen Musikanten. Dann schlug diesem 
das Herz voll Hoffnung, seine Augen hiengen an ihren 
Händen. Aber sie giengen weiter, ohne ihm ein Al 
mosen gegeben zu haben. Und der Knabe fuhr immer 
wieder fort, seinen Leierkasten zu drehen, um vielleicht 
doch endlich die Aufmerksamkeit edelmüthigerer Leute 
auf sich zu lenken: 
„Der Abglanz des Vaters, Herr der Herren alle, 
Ist heme erschienen in unserem Fleisch, 
Gott, der in Windeln liegt im kalten Stalle: 
Kommt, lasset uns anbeten unseren Herrn!" 
Die Nacht brach an, Sterne hatten sich über den 
dunkeln Himmel ausgestreut, der Nordost blies rauh, 
schneidend, durchdringend, der hartgetretene Schnee 
war an den Boden festgefroren. Die Vorübergehenden 
blieben nicht mehr stehen, es fror sie zu sehr. .... 
Und doch, die arme, alte Orgel sang so schöne und 
liebliche, so gar rührende Verse vom Jesukinde: 
„O Kindlein, so dürftig und auf Stroh gebettet, 
O lass dich nnrfangen mit Zärtlichkeit! 
Kindlein voll Liebe, wer sollt' dich nicht lieben? 
Kommt, lasset uns anbeten unsern Herrn!" 
Aber niemand dachte daran, dass ein bisschen 
Barmherzigkeit für den unglücklichen, vor Kälte und 
Furcht erstarrten Knaben auch eine fromme Um 
armung gewesen sein würde, um das Jesukind auf 
dem Stroh der Krippe zu erwärmen. . . . Schwere 
Thränen rannen über die Wangen des armen Kindes, 
wider Willen sank ihm der Arm an seinem Körper 
herab ... er lud die Orgel auf seine Schulter und 
gieng von dannen. Und der Engel folgte ihm. 
Der Knabe gieng langsam, schwer vor Müdigkeit, 
zögernd vor Furcht waren seine Schritte. Zuweilen 
hielt er einen Augenblick vor einem Schaufenster, 
hinter dem appetitliche Sachen ausgelegt waren, oder 
vor den Oeffnungen, denen warme Luftwellen ent 
flohen. Plötzlich machte er Halt und stellte seine Orgel 
auf einen Eckstein: „Wenn ich mich überzählt haben 
sollte?" Er durchsucht seine Taschen, er zählt und 
zählt wieder .... immer sieben Pence! Und doch 
musste er heimkehren. 
Der Engel blieb beständig an seiner Seite, er 
hielt den Diamant an seine Brust und las darin eine 
kurze, traurige Lebensgeschichte. 
Der Knabe hieß „Domi" (Dominicuö). Seine 
Eltern waren arme Italiener, herumziehende Musi 
kanten, welche ihr sonniges Vaterland verlassen hatten, 
in der Hoffnung, in England mehr zu gewinnen. 
Bald brachte das Klima des Nordens der jungen 
Frau den Tod. Der Vater bemühte sich, der zarten 
Waise Vater und Mutter zugleich zu sein. Wenn er 
des Abends mit seinem Leierkasten heimkam (denn ein 
Handwerk hatte der einst so sorglose Sohn des Südens 
nicht gelernt), fand er den theuern Kleinen, der ihn 
an der Thür erwartete und ungeduldig auf seine 
Rückkehr lauerte. Dann überhäufte er ihn mit Küssen 
und Liebkosungen . . . Vater und Kind, ganz allein 
auf der Welt, liebten sich beide mit Innigkeit. 
Einmal, an einem kalten Winterabende — es war 
bald nach dem letzten Weihnachtsfeste — fühlte sich 
der Musikant nicht wohl. Am andern Tage konnte er 
nicht ausgehen. Die Krankheit verschlimmerte sich mit 
erschreckender Schnelligkeit. Der Arzt kam, er erklärte, 
es gebe keine Aussicht mehr. Dann kam der Priester. 
Einige Stunden nachher, als der Kranke mit seinem 
Sohne allein war, rief er ihn an sein Bett. 
„Mein theurer Domi, haben sie dir gesagt, dass 
ich hinübergehe?"
	        
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