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Also wieder zurück zur Mutter! Heillose Angst
erfasste die Kleine und hätte sie die mitleidige
Hausierersfrau, die sie heimführte, nicht so fest an der
Hand gehalten, sie wäre ganz gewiss ausgerissen.
Freundlich war der Empfang nicht, der ihr wurde,
aber es gieng doch ohne Schläge ab.
Freilich dauerte es gar nicht lange und sie musste
wieder fort. Die Mutter hatte sich einen neuen
Bräutigam gefunden, der das blasse verschüchterte
Kind als eine unleidliche Last erklärte. „Nur wenn
sie ihr Kind weggebe, sei er zu haben."
Sind es denn wirklich Scenen aus ihrer Lebens
geschichte, die sich dem beschauenden Geistesauge der
Kranken darbieten? Ja, ihre eigene Mutter ist es, die
sie von Straße zu Straße führt, ihre eigene Mutter
ist es, die sie wie eine Ware vor jedem Laden an
bietet, ihre eigene Mutter ist es, die zuletzt unmuthig
ausruft: „Wer will den Balg, ich schenk' ihn her!"
Und nicht einmal etwa, mehreremale hinterein
ander geschah es, denn nirgends konnte oder wollte
man das Mädchen auf die Dauer behalten.
Fünfmal wurde sodas armeKind von
seiner eigenen Mutter verschenkt. Bis zu
welchem Grad kann nicht ein Menschenherz, selbst
wenn es das einer Mutter ist, verrohen!
Weil sie so oft Wohnort und Familie wechselte,
wuchs sie auf ohne gedeihlichen Unterricht in der
Schule, ohne zielbewusste Erziehung zuhause. Un
gepflegt blieb ihr Herz und ungebildet ihr Geist.
Wer hätte sich auch Mühe geben wollen, das arme
Pflänzlein von den schädlichen Trieben zu befreien,
galt es doch überall als ein schrecklich unnützes
Wuchergewächs?
Mittlerweile hatte die Kleine ein Alter von
16 Jahren erreicht und sich trotz so mancher Ent
behrung und vielfach harter Behandlung, wie sich ein
weitläufiger Vetter ihrer Mutter auszudrücken beliebte,
„zu einem wundernetten Püppchen zusammengewachsen."
Weil der Verwandte, der sich auf einmal bei ihr ein
stellte, als hätte ihn der Himmel herabgeschneit, bei
der Hofoper beschäftigt war und Verbindungen mit
dem Balletchor unterhielt, war sie — ja, was war
sie geworden!
Die Todkranke verbarg ihr Antlitz in die wachs
bleichen Hände und ein qualvoller Seufzer entrang
sich der mühsam athmenden Brust.
Welch frohe Augen machte sie doch, als sich vor
ihr die Theaterwelt mit ihrem gleißenden Schimmer
aufthat. Wie reizend fand sie es, als Sylphide über
die Bühne zu schweben, umbraust vom rasenden Bei
fall einer klatschsüchtigen Menge, und welch unschuldiges
Lächeln verklärte ihre kindlichen Züge, als sie sich
das erstemal um Rosen bücken durfte, die zu ihren
Füßen niederfielen.
Und als einer mit leuchtenden Augen vor sie
hintrat und zu ihr von Liebe sprach, zu ihr, die bis
her nichts als Kälte und Zurücksetzung erfahren, wen
darf es wundern, dass sie seine glatten Worte für
wahr hielt und sich ihm ergab in blindgläubigem
Vertrauen? Sie wusste sich nicht aus vor lauter
Glück und glaubte sich wahrhaftig im Himmel. Es
fehlte ihr ja die Mutter, die ihr hätte sagen können,
dass ein Theaterhimmel nur gemalt fei und ihre
schadenfrohen Colleginnen dachten sich, das werde sie
ohnehin bald genug an sich selbst erfahren. Und sie
erfuhr es.
Der Schändliche! Wenn nur das Spiel, das er
mit ihr getrieben, nicht gar so grausam gewesen wäre.
Er hatte ihr die Ehre geraubt und mit ihr — das
Leben.
Und sie war kaum 18 Jahre alt und Frühling
war's wieder geworden auf Erden und in der Natur
erwachte alles zu neuem, fröhlichen Leben.
Wenn ein Wunder den Tod von ihrem Lager
scheuchte und auch sie weiter leben könnte! Gienge sie
wieder zurück in das glänzende Elend der Bühne?
Nimmermehr, um keinen Preis, schon nicht ihres
Heilandes wegen, mit dem sie eben erst ein herzens
kundiger Priester ausgesöhnt. Aber was dann? Sie
versteht keine Nadel zu führen und hatte sich nie
vor'm lodernden Feuer eines Herdes nützlich gemacht
und einer schwereren Last ist ihr zarter Körper nicht
gewachsen. Auf Erden hat sie niemand, der sich ihrer
liebevoll annimmt und an ihr nachholt, was in der
frühen Jugend versäumt worden. Vielleicht ist der
Tod noch wünschenswerter als das Leben, das sich
ihr darbietet.
So sinnt die Sterbenskranke, die allein, verlassen
in ihrem Dachstübchen liegt. Arme können sich ja
keine Wärterinnen bezahlen und die gutherzige Wäscherin,
die hie und da nach ihr sieht, hat heute selbst die Hände
voll Arbeit.
Merklich ruhiger ist die Leidende geworden. Sie
greift nach dem kleinen Crucifix, das vor ihr auf der
zerschlissenen Decke ruht, drückt einen heißen Kuss
darauf und flüstert mit innigem Ausdruck der Stimme:
„Ich glaube es, mein Jesus, dass du allein mein Er
löser bist."
Da pocht es an die Thüre der Kammer und herein
tritt mit demselben heiligsten Namen auf den Lippen
ein Priester des Herrn. Silberweiß ist sein Haar,
väterliche Güte spricht aus den noch jugendfrischen
Augen. Ein Jubelruf vom Krankenlager hcr begrüßt
ihn. Ec entnimmt seinem Brevier ein Bild der Mutter
gottes von der immerwährenden Hilfe, legt es vor
sein Beichtkind hin und lässt sich dann an seiner
Seite nieder. Was er nun spricht, ganz leise, nur für
die Sterbende vernehmlich, muss gar beseligend sein
für ein todwundes Herz, denn immer friedlicher,
immer freudiger werden die Züge des Mädchens. —
Schon dämmert der Abend durchs Fenster und
noch immer weilt er am Krankenlager, das zum
Sterbebett geworden. Das Marienbild auf den er
kaltenden Lippen, sinkt die Arme sanft in den letzten
Schlummer und als vom nahen Klosterthurm her die
Aveglocken läuten, betet der Priestergreis das „De
profundis“ für ein verlassenes Menschenkind, das nun
endlich eine Mutter und eine Heimat gefunden.