Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1895 (1895)

(96) 
Also wieder zurück zur Mutter! Heillose Angst 
erfasste die Kleine und hätte sie die mitleidige 
Hausierersfrau, die sie heimführte, nicht so fest an der 
Hand gehalten, sie wäre ganz gewiss ausgerissen. 
Freundlich war der Empfang nicht, der ihr wurde, 
aber es gieng doch ohne Schläge ab. 
Freilich dauerte es gar nicht lange und sie musste 
wieder fort. Die Mutter hatte sich einen neuen 
Bräutigam gefunden, der das blasse verschüchterte 
Kind als eine unleidliche Last erklärte. „Nur wenn 
sie ihr Kind weggebe, sei er zu haben." 
Sind es denn wirklich Scenen aus ihrer Lebens 
geschichte, die sich dem beschauenden Geistesauge der 
Kranken darbieten? Ja, ihre eigene Mutter ist es, die 
sie von Straße zu Straße führt, ihre eigene Mutter 
ist es, die sie wie eine Ware vor jedem Laden an 
bietet, ihre eigene Mutter ist es, die zuletzt unmuthig 
ausruft: „Wer will den Balg, ich schenk' ihn her!" 
Und nicht einmal etwa, mehreremale hinterein 
ander geschah es, denn nirgends konnte oder wollte 
man das Mädchen auf die Dauer behalten. 
Fünfmal wurde sodas armeKind von 
seiner eigenen Mutter verschenkt. Bis zu 
welchem Grad kann nicht ein Menschenherz, selbst 
wenn es das einer Mutter ist, verrohen! 
Weil sie so oft Wohnort und Familie wechselte, 
wuchs sie auf ohne gedeihlichen Unterricht in der 
Schule, ohne zielbewusste Erziehung zuhause. Un 
gepflegt blieb ihr Herz und ungebildet ihr Geist. 
Wer hätte sich auch Mühe geben wollen, das arme 
Pflänzlein von den schädlichen Trieben zu befreien, 
galt es doch überall als ein schrecklich unnützes 
Wuchergewächs? 
Mittlerweile hatte die Kleine ein Alter von 
16 Jahren erreicht und sich trotz so mancher Ent 
behrung und vielfach harter Behandlung, wie sich ein 
weitläufiger Vetter ihrer Mutter auszudrücken beliebte, 
„zu einem wundernetten Püppchen zusammengewachsen." 
Weil der Verwandte, der sich auf einmal bei ihr ein 
stellte, als hätte ihn der Himmel herabgeschneit, bei 
der Hofoper beschäftigt war und Verbindungen mit 
dem Balletchor unterhielt, war sie — ja, was war 
sie geworden! 
Die Todkranke verbarg ihr Antlitz in die wachs 
bleichen Hände und ein qualvoller Seufzer entrang 
sich der mühsam athmenden Brust. 
Welch frohe Augen machte sie doch, als sich vor 
ihr die Theaterwelt mit ihrem gleißenden Schimmer 
aufthat. Wie reizend fand sie es, als Sylphide über 
die Bühne zu schweben, umbraust vom rasenden Bei 
fall einer klatschsüchtigen Menge, und welch unschuldiges 
Lächeln verklärte ihre kindlichen Züge, als sie sich 
das erstemal um Rosen bücken durfte, die zu ihren 
Füßen niederfielen. 
Und als einer mit leuchtenden Augen vor sie 
hintrat und zu ihr von Liebe sprach, zu ihr, die bis 
her nichts als Kälte und Zurücksetzung erfahren, wen 
darf es wundern, dass sie seine glatten Worte für 
wahr hielt und sich ihm ergab in blindgläubigem 
Vertrauen? Sie wusste sich nicht aus vor lauter 
Glück und glaubte sich wahrhaftig im Himmel. Es 
fehlte ihr ja die Mutter, die ihr hätte sagen können, 
dass ein Theaterhimmel nur gemalt fei und ihre 
schadenfrohen Colleginnen dachten sich, das werde sie 
ohnehin bald genug an sich selbst erfahren. Und sie 
erfuhr es. 
Der Schändliche! Wenn nur das Spiel, das er 
mit ihr getrieben, nicht gar so grausam gewesen wäre. 
Er hatte ihr die Ehre geraubt und mit ihr — das 
Leben. 
Und sie war kaum 18 Jahre alt und Frühling 
war's wieder geworden auf Erden und in der Natur 
erwachte alles zu neuem, fröhlichen Leben. 
Wenn ein Wunder den Tod von ihrem Lager 
scheuchte und auch sie weiter leben könnte! Gienge sie 
wieder zurück in das glänzende Elend der Bühne? 
Nimmermehr, um keinen Preis, schon nicht ihres 
Heilandes wegen, mit dem sie eben erst ein herzens 
kundiger Priester ausgesöhnt. Aber was dann? Sie 
versteht keine Nadel zu führen und hatte sich nie 
vor'm lodernden Feuer eines Herdes nützlich gemacht 
und einer schwereren Last ist ihr zarter Körper nicht 
gewachsen. Auf Erden hat sie niemand, der sich ihrer 
liebevoll annimmt und an ihr nachholt, was in der 
frühen Jugend versäumt worden. Vielleicht ist der 
Tod noch wünschenswerter als das Leben, das sich 
ihr darbietet. 
So sinnt die Sterbenskranke, die allein, verlassen 
in ihrem Dachstübchen liegt. Arme können sich ja 
keine Wärterinnen bezahlen und die gutherzige Wäscherin, 
die hie und da nach ihr sieht, hat heute selbst die Hände 
voll Arbeit. 
Merklich ruhiger ist die Leidende geworden. Sie 
greift nach dem kleinen Crucifix, das vor ihr auf der 
zerschlissenen Decke ruht, drückt einen heißen Kuss 
darauf und flüstert mit innigem Ausdruck der Stimme: 
„Ich glaube es, mein Jesus, dass du allein mein Er 
löser bist." 
Da pocht es an die Thüre der Kammer und herein 
tritt mit demselben heiligsten Namen auf den Lippen 
ein Priester des Herrn. Silberweiß ist sein Haar, 
väterliche Güte spricht aus den noch jugendfrischen 
Augen. Ein Jubelruf vom Krankenlager hcr begrüßt 
ihn. Ec entnimmt seinem Brevier ein Bild der Mutter 
gottes von der immerwährenden Hilfe, legt es vor 
sein Beichtkind hin und lässt sich dann an seiner 
Seite nieder. Was er nun spricht, ganz leise, nur für 
die Sterbende vernehmlich, muss gar beseligend sein 
für ein todwundes Herz, denn immer friedlicher, 
immer freudiger werden die Züge des Mädchens. — 
Schon dämmert der Abend durchs Fenster und 
noch immer weilt er am Krankenlager, das zum 
Sterbebett geworden. Das Marienbild auf den er 
kaltenden Lippen, sinkt die Arme sanft in den letzten 
Schlummer und als vom nahen Klosterthurm her die 
Aveglocken läuten, betet der Priestergreis das „De 
profundis“ für ein verlassenes Menschenkind, das nun 
endlich eine Mutter und eine Heimat gefunden.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.