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fünfmal mrfMM.
Lin wahres Bild aus dem Leben der Großstadt
aufgenommen von $. I. Sermanschläger.,
kaufen können, zn verkünden, dass nun auch sie wieder
ihr tägliches Concert haben sollen.
Eng und schmutzig war das Gässchen, das er
aufsuchte, und arg mitgenommen vom Winter, der just
in der Stadt sich am hartherzigsten zeigt, sahen die
Häuser aus, an denen er vorübergaukelte.
Von einem Dachfenster, das zur Hälfte mit
Zeitungspapier verklebt war, prallte er jäh zurück,
als wäre der Anblick dessen, was ec durch die zer
brochenen Scheiben sah, nicht zu ertragen.
Bitter ist der Tod immer, am bittersten aber
wird er dann, wenn er ein junges Menschenherz von
der Erde losreißt, da sie sich gerade in den Zauber
jungfräulicher Schönheit hüllt.
Frühling war es wieder geworden und alles er
wachte zu neuem fröhlichen Leben, nur das Mädchen,
das in den fadenscheinigen Kissen seines armseligen
Bettes lag, das blutjunge Geschöpf wusste es, dass
es mit ihm zuende gehe, jetzt, wo es endlich auch
den Frieden seiner Seele gefunden und die Erde ihm
doppelt begehrenswert erschien.
Mit nervöser Geberde streicht es von der feuchten
Stirne das goldbraune Haar zurück, das in glänzenden
Wellen ihm Nacken und Schultern umflutet. Dann
krampst es die mageren Hände ineinander und während
eine große Thräne von seinem schwermüthig blickenden
Auge sich loslöst, stöhnt es vor sich hin: „Gekreuzigter
Heiland, muss es denn wirklich schon sein!"
Ein welker Lorbeerkranz mit verblasster Rosa
schleife hängt über dem Fußende ihres Lagers an der
sonst kahlen Wand. Vor wenigen Monaten erst wurde
er der Kranken geworfen. Duftiger Mousselin und
allerlei glitzernder Flitterkram ist über die einzige
Commode geworfen, die im engen Dachstübchen steht.
Wie lange ist's her, seit sie darin die Theaterwelt
entzückte.
Wie schwindelnd vor den Bildern, die sich an
sie herandrängen, schließt sie die Augen. Im Geiste
durchgeht sie ihr kurzes Leben, das so arm an
Glück und Liebe und so reich an Elend und Ent
täuschung war.
rühling war's wieder auf Erden geworden und in der Natur erwachte
Alles zu neuem, fröhlichen Leben. Auch im Stadtwäldchen zu T.
schlugen die Osterblumen ihre blauen Augen auf und schauten ver
gnügt den Sonnenstrahlen zu, wie sie von Baum zu Baum huschten
und ein Knösplein nach dem andern aufküssten. Ein vielstimmiges
Gezwitscher und Getriller erfüllte die weiche, würzige Luft, denn die
kleinen gefiederten Musikanten, die der liebe Gott soeben aus dem
Süden berufen, damit sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend
lustig aufspielen, prüften voll Eifer ihre Kehlen. Beifallnickend um
flatterte sie ein citronengelber Falter und schwang sich dann eilig der
Stadt zu, um den armen Leuten, die sich kein Billet für eine Soiröe
Schon als kleines Kind fühlte sie sich so arm,
weit ärmer als die schlechtbekleideten Nachbarkinder,
die sich im düsteren Hofe einer Mietskaserne herum
balgten, oder an Regentagen in den entstandenen
Pfützen ihre Papierschiffchen treiben ließen. Die hatten
doch eine Mutter, die ab und zu ein freundliches
Wort an sie richtete und nicht fortwährend drohte
und schalt, wie die ihrige. Was konnte denn sie, die
unschuldige Kleine, dafür, dass man ihren Vater,
einen Fabriksarbeiter, eines Tages als schrecklich ver
stümmelte Leiche nachhause brachte? Der Treib
riemen einer Maschine hatte ihn erfasst und lebendig
gerädert und so war ihre Mutter zur jungen Witwe
geworden, die ihren Ernährer verloren.
Den tröstlichen Glauben, dass es einen Vater
im Himmel gibt, der auch für Witwen und Waisen
sorgt, hatte ja der Todte seinem Weibe längst aus
geredet, denn er war einer von den „Rothen" ge
wesen, die sich und andere gern an den Lehren Lassalles
berauschen. Bettelarm am Herzen und am Beutel
hatte er die Seinen zurückgelassen.
Und so war der Tag gekommen, an dem die
vaterlose Waise von der eigenen Mutter fortgeschickt
wurde, sich einen neuen Vater zu suchen. Nur mit
einem dünnen Hemdchen angethan, trippelte sie durch
die Gänge des weitläufigen Hauses, pochte mit den vor
Kälte steifen Fingerlein an jede Thüre und schluchzte,
während ihr die hellen Zähren über die bleichen
Backen liefen: „Nimmt mich denn niemand? Ich
darf nicht mehr heim zur Mutter, sie hat kein Stück
Brot mehr für mich und mag mich nimmer!" Das
Weib eines Hausierers, dem selbst vier hungrige Buben
aus der Schüssel aßen, räumte ihr in christlicher Liebe
einen Platz im Zimmer ein und dort lernte sie doch
wenigstens das „Vaterunser" beten. Nach einem
Vierteljahre aber sprach der Mann unwirschen Tones:
„Mach' was du willst mit der Kleinen, aber schau,
dass Du sie aus dem Haus bringst. Das Geschäft
geht immer schlechter und ich werde doch nicht meine
eigenen Kinder darben lassen, um einen Schmarotzer
füttern zu können."