Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1893 (1893)

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Vom Vanne crföfct. 
Novelle von Therese Rat 
dieser Mann reich an Glücksgütern gesegnet, doch 
stand er säst allein auf der Welt. Von all' seinen 
Nachkommen, seinen Kindern und Kindeskindern war 
ihm nur ein zartes Mädchen, der einzige Sprössling 
seines jüngsten Sohnes, geblieben. 
Marie, so hieß die Kleine, war der Abgott ihres 
Großvaters. Er trennte sich nie von ihr und all 
jährlich pflegten beide während der heißen Monate 
aus der fernen Residenz Niederösterreichs sich hieher 
in die stille Einsamkeit der Berge zu flüchten. Die 
reine Waldesluft wirkte ungemein belebend und stär 
kend auf das zu allerlei kränklichen Zufällen geneigte 
Kind, welches trotz seiner zwölf Jahre noch recht 
unentwickelten Körpers war. 
Auch im verflossenen Sommer waren Großvater 
und Enkelin wieder gekommen, ohne gerade von der 
Freundlichkeit des Wetters besonders begünstigt zu 
werden. Doch brachte dafür der Herbst eine Reihe 
von schönen Tagen, so dass man den Aufenthalt 
länger als gewöhnlich ausdehnte und erst im Oktober 
Zurüstungen zur Abreise traf. Da warfen unauf 
geklärte Ursachen Marie auf das Krankenlager, so 
dass an eine Uebersiedelung nicht zu denken war. 
Und nachdem das Uebel in der Folge einen sehr lang 
wierigen Verlauf nahm, war man sogar genöthigt, 
sich für den ganzen Winter im Landhause einzuquar 
tieren. Es war eben unmöglich, mit dem schwer 
leidenden Kinde irgend eine örtliche Veränderung vor 
zunehmen Der Großvater war außer sich vor Angst 
und Sorge, umsomehr, da der erste größere Markt 
flecken, wo am nächsten Arzt und Apotheke sich be 
fanden, drei gute Gehstunden entfernt war. 
Erstes Capitel: 
Die bedeutungsvolle Wiege. 
nweit vom Eingänge des dichten Nadelgehölzes standen sich 
auf schneebedecktem Waldesgrnnde zwei Männer im eifrigen 
Gespräche gegenüber. Auf dem Haupte des Einen schimmerte 
dessen Lockenzier schier so weiß wie der Schnee zu seinen 
Füßen. Doch in ungebeugter Haltung trug dieser Mann die 
Fülle seiner Jahre, und ungetrübt strahlte der Glanz der 
lebhaft blickenden Augen. Seine Kleidung verrieth sowohl 
durch die Feinheit des Stoffes, als auch durch die Wahl der 
Schnittart sogleich den vornehmen Städter. Der Andere hin 
gegen, der aus treuherzigen Augen ohne Scheu zu dem 
eleganten Herrn aufschaute, trug das rauhe, schlichte Gewand 
des Mannes, der durch schwere Arbeit dem Geschicke das 
tägliche Brot abringen muss. Uebrigens mochte der also vom 
Leben bedachte diese Aufgabe ohne sonderliche Mühe zustande 
bringen. Zeigte doch sein Körperbau ungewöhnliche Muskel 
kraft und unleugbar spiegelte sich auf dem blühenden Antlitze 
volle, ungeschwächte Jngendkraft. 
Heinrich von Wolfram, der Name des feingekleideten 
Herrn, besaß ungefähr zweihundert Schritte vom Eingang des 
Waldes gelegen, ein nett gebautes Landhaus. Auch sonst war 
In dem ersten Stadium ihrer Krankheit ward 
Marie häufig von fraisenartigen Krampfanfällen heim 
gesucht, welche, je häufiger sie sich wiederholten, einen 
uniso schwächenderen Einfluss auf das arme Kind 
ausübten. Natürlich war es eine Hauptsorge des 
Arztes, diese Krankheitserscheinungen zu bekämpfen, 
da er Wohl erkannte, wie verhängnisvoll sie durch 
ihr häufiges Auftreten dem Leben seiner kleinen Pa 
tientin endlich werden mussten. Zwei bis drei solcher 
Stürme noch und die Widerstandskraft dieser zarten 
Menschenpflanze war gebrochen. 
Nach einer besonders kritischen Nacht war der 
Arzt außer der üblichen Vormittagsvisite auch noch 
am Nachmittage herübergefahren. Er brachte bei diesem 
Besuche ein Arzneimittel mit, welches nach bestem 
Wissen und Können die Wirkung, den Ausbpuch 
solcher Anfälle zn mildern, nicht versagen konnte. 
Am Abend nun zeigte sich die Kleine wieder 
recht unruhig, redete zeitweise irre und glühte wie 
im Feuer. Untrügliche Vorboten einer neuerlichen 
Verschlimmerung. Die Wärterin wollte eben die durch 
den Arzt bestimmte Anzahl der beruhigenden Tropfen 
in das Arzneiglas überfüllen, als durch eine unge 
schickte Bewegung das Fläschchen ihrer Hand entglitt, 
und der Inhalt sich auf den Teppich ergoss. 
Der alte Herr hätte sich in seiner Aufregung 
beinahe thätlich an der unachtsamen Dienerin ver 
griffen und natürlich war sein erster Gedanke, unver 
züglich Ersatz für den verschütteten Trank zu schaffen 
Doch war dies unter den heute bestehenden Verhält 
nissen tausendmal leichter gesagt als gethan. Nach 
dem Sonntag war, hatte der Herr seinen männlichen
	        
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