Volltext: Józef Piłsudski Das Jahr 1920 (Band II / 1935)

316 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 
wurden Ergänzungsmannschaften eingereiht, und nach zwei bis 
drei Wochen war die Front wieder gekräftigt. Aber diese Kräfti¬ 
gung muß man mit gewissem Vorbehalt beurteilen. Die eingetrof¬ 
fenen Ergänzungsmannschaften waren trotz des Herbstwetters 
ohne Bekleidung und Schuhwerk. 
Erst nach dem Empfang von Uniformen war an eine Offensive 
zu denken. Ohne eine Offensive aber konnte man schwerlich vom 
Kampfwert der Truppen sprechen. Wenn der Feind vor uns zum 
Angriff übergehen würde, so würden wir zweifellos geschlagen 
werden. Dennoch war der Geist der Truppe gut. Der verlorene 
Feldzug ließ sie eine neue Offensive wünschen. Wir hatten die 
besten Aussichten, das Kriegsglück wieder auf unsre Seite zu 
bringen. Es kam nur darauf an, wer zuerst bereit sein und zum 
Angriff übergehen würde. Leider gestattete uns die wirtschaft¬ 
liche Lage der Republik nicht, unsre Aufgabe zu erfüllen. Die 
Polen begannen zuerst die Offensive, und unser Rückzug wurde 
unvermeidlich. 
Die Reiterarmee, die schließlich mit großer Verspätung in der 
Richtung auf Lublin eintraf, wurde von der Obersten Heeres¬ 
leitung zu einem Handstreich gegen Zamosc angesetzt, doch es 
war schon zu spät. 
Schlußwort 
Die wichtigste Folgerung aus unserem Feldzug von 1920 ist die, 
daß er nicht durch die Politik, sondern durch die Strategie ver¬ 
loren wurde. Die Politik hatte der Roten Armee eine schwere, 
gewagte und kühne Aufgabe gestellt. Aber bedeutet das, daß 
diese Aufgabe falsch gestellt war? Es gibt kein großes Werk, das 
nicht Kühnheit und Entschlossenheit erfordert. Wenn man etwa 
unsre Oktober-Revolution mit unsrer sozialistischen Außenoffen¬ 
sive vergleicht, so muß man zu dem Schluß kommen, daß die 
Aufgabe im Oktober noch viel kühner, viel waghalsiger war. Die 
Rote Front hätte die ihr gestellte Aufgabe lösen können; sie hat 
sie aber nicht gelöst. Der wesentlichste Grund unsrer Niederlage 
war die ungenügende Vorbereitung der russischen Truppenkom¬ 
mandanten auf ihre Aufgabe. Es fehlte an technischen Mitteln, 
weil man ihnen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte. 
Die mangelhafte Vorbereitung bei manchen unsrer Führer 
machte es unmöglich, die Mängel in der technischen Leitung an 
Ort und Stelle auszugleichen. Daß im entscheidenden Augen¬
	        
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