294 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
kleinsten Gefecht standhalten zu können. Und dieser Mangel an
Ausdauer herrschte nicht allein unter den Truppen, sondern auch
unter den polnischen Feldherren.
Konnte diese Lage, in der wir trotz zahlenmäßiger Unterlegen¬
heit dem Gegner überlegen waren, weiter fortdauern, falls wir an
der polnischen Grenze stehengeblieben wären? Sicherlich nicht!
Wenn dieses Stehenbleiben uns die Möglichkeit geboten hätte,
die Ergänzung der Truppen durchzuführen, unsere Etappe zu
verstärken und den Aufbau der angreifenden Armeen zu ordnen,
so besaßen die Polen in dieser Hinsicht selbstverständlich noch
weit größere Möglichkeiten. Man darf nicht vergessen, daß da¬
bei nicht nur die Existenz der kapitalistischen Welt Polens, son¬
dern diejenige von ganz Europa auf dem Spiel stand. Munitions¬
und Waffentransporte aus Frankreich und England strömten der
polnischen Armee ununterbrochen zu. Streiks und tätlicher Wi¬
derstand deutscher Arbeiter in Danzig und auf den Eisenbahnen
wurden durch französische und englische Truppen mit Gewalt
unterdrückt, die für das Ausladen und Verladen des notwendigen
Nachschubs sorgten. Das polnische Kapital spannte alle seine
Kräfte an und entfaltete eine wütende Agitation gegen die bol¬
schewistische Offensive. Die Priester stellten sich ganz in seinen
Dienst und riefen die polnische Bevölkerung zur nationalen
Selbstverteidigung auf. Die Bildung von Freiwilligen-Bataillonen
der Bourgeoisie ging gut vonstatten. Wenn wir nun den Polen
erlaubt hätten, diese Tätigkeit ungestört durchzuführen, so hät¬
ten wir nach Verlauf von zwei oder drei Wochen, die wir zur
Beendigung unserer Arbeit benötigten, zahlenmäßig bedeutend
überlegenen Heeren gegenübergestanden und hätten in strategi¬
scher Hinsicht wieder unsere Zukunft auf eine Karte setzen müs¬
sen. Angesichts der von der polnischen Armee erlittenen Erschüt¬
terung waren wir berechtigt und verpflichtet, unsere Offensive
fortzusetzen. Unsere Aufgabe war schwierig, gewagt und ver¬
wickelt; aber Weltprobleme kann man nicht mit Hilfe leichter
Aufgaben entscheiden.
X. Der Kampf am Narew und Bug
Ende Juli beginnen unsere Kämpfe am Narew- und Bugfluß.
Zum ersten Male seit Beginn der Operationen leisteten uns die
Polen hier zähen Widerstand.
Auf den Abschnitten der 4., 15. und 3. Armee mußten wir un¬