Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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kein Zweifel, daß die Dichtkunst den ersten Rang behauptet. 
Dagegen ist die Beredsamkeit, wenn sie sich mit poetischen Mit 
teln ausschmückt, eine falsche Kunst. Will sie überzeugen, so 
ist sie ein Geschäft des Verstandes; will sie blenden und über 
reden, so braucht sie die Mittel der Einbildungskraft als Kunst 
griffe; Kunstgriffe aber sind nicht Kunst. „In der Dichtkunst 
geht alles ehrlich und aufrichtig zu. Sie erklärt sich, ein bloßes, 
unterhaltendes Spiel mit der Einbildungskraft, und zwar der 
Form nach einstimmig mit Verstandesgesetzen, treiben zu wollen, 
und verlangt nicht, den Verstand durch sinnliche Darstellung zu 
überschleichen und zu verstricken." „Ich muß gestehen," fügt Kant 
hinzu, „daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnü 
gen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Rede eines 
römischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners 
jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer 
hinterlistigen Kunst vermengt war, welches die Menschen in 
wichtigen Dingen zu einem Urtheile zu bewegen versteht, das im 
ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß." 
Vergleicht man mit der redenden Kunst die anderen Künste, 
so steht der Sprache nichts näher als der Ton, der Poesie nichts 
näher als die Musik. Sie ist die Sprache der Empfindung. 
Sehr gut beurtheilt Kant an dieser Stelle die Musik aus Ver 
gleichung mit der menschlichen Stimme. „Der Reiz derselben, 
der sich so allgemein mittheilen läßt, scheint darauf zu beruhen, 
daß jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhang einen Ton 
hat, der dem Sinne desselben angemessen ist, daß dieser Ton 
mehr oder weniger einen Affect des Sprechenden bezeichnet und 
gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt, die dann in diesem 
umgekehrt auch die Idee erregt, die in der Sprache mit solchem 
Tone ausgedrückt wird; und daß, so wie die Modulation gleich
	        
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