Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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das menschliche Geschlecht wirklich zum Besseren beständig fort 
schreite ?" 
Diese Frage bezieht sich auf die Zukunft der Menschheit, 
und zwar auf deren sittliche Zukunft. Um die Frage zu lösen, 
müssen wir im Stande sein, die Zukunft der Menschheit voraus 
zusagen. In der Natur lassen sich nach bekannten Gesetzen künf 
tige Begebenheiten, wie Sonnen- und Mondfinsternisse, vorher 
bestimmen; in der Geschichte dagegen sind solche wissenschaftliche 
Vorherbestimmungen künftiger Begebenheiten unmöglich. Die 
Voraussagung wird hier zur Wahrsagung. Es ist die Frage, 
ob es in Rücksicht der sittlichen Zukunft des Menschengeschlechts 
eine „wahrsagende Geschichte" oder, was dasselbe heißt, ob cs 
„Geschichte a priori" giebt? Wie Kant diese Frage beantwortet, 
wissen wir schon aus seinen geschichtsphilosophischen Ansichten. 
Die Bestimmung unserer geschichtlichen Zukunft richtet sich 
nach der Art, wie die geschichtliche Bahn der Menschheit über 
haupt aufgefaßt wird. Hier sind drei Ansichten möglich: die 
Sittengeschichte des menschlichen Geschlechts erscheint entweder 
als ein beständiger Rückschritt, d. h. als zunehmende Verschlech 
terung, oder als beständiger Fortschritt, d. h. als zunehmende 
Verbesserung, oder endlich als ein Wechsel von beiden, d. h. im 
Ganzen genommen als ewiger Stillstand. Wenn sich die Mensch 
heit zunehmend verschlechtert, so ist ihr Ziel das absolut Schlechte, 
ein Zustand, in dem an der Menschheit nichts Gutes mehr übrig 
bleibt: diese Ansicht nennt Kant „die terroristische Vorstellungs 
art". Wenn sich die Menschheit zunehmend verbessert, so ist ihr 
Ziel das absolut Gute, ein Zustand, in dem alle Uebel aus der 
Menschheit verschwunden sind: diese Ansicht nennt Kant „die 
eudämonistische Vorstellungsart" oder auch den „Chiliasmus". 
Endlich, wenn die Geschichte zwischen Rückschritt und Fortschritt
	        
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