Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

menheit. Es giebt für die Gesinnung, diese innerste Willens 
eigenthümlichkeit, keinen anderen Ausdruck, wodurch sie sich be 
thätigt und offenbart, als Leben und Lehre, keine andere Probe, 
wodurch sie sich hienieden bewährt, als das Leiden, das sie sieg 
reich besteht. Der Grad des Leidens offenbart die Stärke der 
Tugend. Die über jeden Widerstand erhabene Gesinnung, die 
vollkommen unerschütterliche, bewährt sich im äußersten Leiden, 
es giebt kein Leiden, das größer wäre, als der Tod, der zugleich 
schmähliche und qualvolle. Nun aber hat der wahrhaft göttlich 
gesinnte Mensch das Böse in sich bis auf die Wurzel vertilgt; 
er ist zwar vermöge seiner menschlichen Natur der Versuchung 
preisgegeben, wie jeder Andere, aber die Versuchung hat ihn nie 
überwunden; er ist in seinem Innersten vollkommen lauter, also 
vollkommen, sündlos. So ist dieser Mensch der Einzige, dessen 
Leiden nicht gelten darf als eine Sühne der eigenen Schuld. Er 
leidet absolut unverdient. Wo also ist hier der moralische Zu 
sammenhang zwischen Schuld und Leiden? Wie läßt sich das 
äußerste Leiden mit der vollendeten Tugend in einer moralischen 
Verbindung denken? Wenn es doch immer eine Schuld ist, die 
das Leiden nach sich zieht, und in diesem Falle der Leidende frei 
ist von jeder Schuld und Sünde, so kann das Leiden des göttlich 
gesinnten Menschen nur gedacht werden als die Sühne fremder 
Schuld; er leidet für andere, nicht für diesen oder jenen, son 
dern für die ganze Menschheit: er leidet, um den moralischen 
Weltzweck zu befördern, um die Idee des Menschen in sich zu 
verwirklichen und dadurch vorbildlich für alle zu machen. 
Das sind die Charakterzüge, in denen sich das moralische 
Ideal ausprägt. Dieses Ideal ist kein Erfahrungsobject, kein 
Gegenstand also der Einsicht, sondern nur des Glaubens; wir 
glauben das Gute als den moralischen Weltzweck, wir glauben
	        
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