Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

102 
dem Gesetze gemäß und zuwider bestimmen können. In einem 
solchen Willen darf das Gesetz sich nicht als Zwang äußern, sonst 
wäre der Wille unfrei und könnte nicht anders als gesetzmäßig 
handeln; aber es wird trotzdem als Nothwendigkeit erscheinen, 
denn sonst wäre das Gesetz kein Gesetz. Es muß daher der Aus 
druck einer Nothwendigkeit sein, die den Zwang ausschließt: es 
wird den Willen nicht zwingen, wohl aber nöthigen oder ver 
pflichten. So erscheint das Gesetz als Pflicht, als ein Gebot, 
welches sagt: „du sollst!" Das Sollen ist ein Müssen, das de» 
Zwang ausschließt, es bezeichnet die Nothwendigkeit des Wollend. 
Das Naturgesetz ist kein Gebot, denn es ist unwiderstehlich; es 
wäre sinnlos zu sagen: „die Körper sollen sich im Verhältnisse 
der Massen anziehen, die Anziehung soll im umgekehrten Verhält 
nisse der Entfernungen wirken", denn es kann nicht anders sein. 
Wenn es anders sein könnte, so wäre das Gesetz kein Naturge 
setz. Die Körper müssen dem Naturgesetz folgen. Es wäre eben 
so sinnlos zu sagen: „der Wille muß das Sittengesetz befolgen", 
dann wäre die Willenshandlung eine naturnothwendigc Wirkung, 
dann wäre der Wille kein Wille, also auch sein Gesetz kein Sit 
tengesetz. Das Naturgesetz sagt: es muß so sein; das Sittenge 
setz sagt: du sollst so handeln. Beide sind nothwendig, das 
erste im mechanischen Sinne, das zweite im moralischen. Jede 
gesetzwidrige Wirkung in der Natur hebt das Gesetz auf und be 
weist dessen Unzulänglichkeit; keine gesetzwidrige Handlung des 
Willens hebt das Sittengesetz auf oder beeinträchtigt dessen Noth 
wendigkeit. 
Das Willensgesetz erscheint als „ I m p e r a t i v ", wenn bet 
Wille sinnlicher Natur, also empirisch bestimmbar ist: darum 
kann sich das Sittengesetz im menschlichen Willen nur in der Form 
des Gebotes äußern. Indessen hat diese Form nicht bloß das
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.