Volltext: Alt-Wien [72/73/74]

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Berlin, wo es etwa ist wie von einem Tag in den andern. Den 
Neujahrscibend und den Tag selbst kann man vor Karossen 
kaum die Straße passieren; die Fiakers schlagen auf. Die fast 
immer offenen Tanzlokale werden geschlossen, weil die Beamten 
gratulieren müssen. Einer von dem im Archiv Angestellten hat 
hundertfünfzig Karten ausgegeben; ein anderer behauptet, das 
Neujahr koste ihm 400 Gulden. Kurz, es ist ein Treiben ohne— 
gleichen. Niemand findet man zu Haus. Dies kommt auch 
daher, weil man alle kleinen wechselseitigen Geschenke, die 
Weihnachten bei uns bringt, hier nach Neujahr verlegt hat. 
Weihnachten dagegen feiert man auf andere Weise. n 
Es ist der Weihnachtsabend, halb elf. Das Dienstmädchen 
kommt mit dem Licht herein und sagt leise zu mir: Nannette 
ist draußen. Dies ist die Kammerjungfer der Gräfin. Ver⸗ 
gebens beteuere ich, daß es noch zu früh sei; Du weißt, diesen 
Mädchen wird immer die Zeit zu lang. Sie versichert, sie 
wolle mich in die Franziskanerkirche führen, wo man schöne 
Musik machen werde, die ich freilich — denn die Kirchen sind 
mein größtes Studium nicht — noch nicht zu finden wußte. So 
gehen wir dahin, enge Kreuzgänge entlang neben einem 
sogenannten Krippenspiel vorbei (es sind erleuchtete kleine 
Figuren von der Geburt Christi). Die Kirche finden wir schwach 
erleuchtet, die Bänke noch nicht ganz besetzt; kniende Mädchen 
um den Hochaltar — Du kannst denken, daß es mir hier gar 
bald zu langweilig ward. Ich lasse meine Begleiterin knien und 
Jehe, eine andre Kirche zu suchen. Leider kenne ich die Straßen 
nicht recht, gehe so entlang und sehe hellerleuchtete Fenster. Erst 
als ich nahe kam, erkannte ich den wohlbekannten St. Stephan 
wieder. Die Kirche prächtig erleuchtet; viele große Kronen⸗ 
leuchter, die Lichter der Altäre. Dazu das Heilig— 
tum dieses bewundernswürdigen Baues. An dem Hochaltaär 
las man Messe. Ich trete in den Chor und nahe dem Gitter 
des Altars, wenige Reihen vor mir fasse ich stand. Man singt, 
doch nicht eben mit den schönsten Stimmen. Weißbemäntelte 
erheben sich und knien nieder. Lateinische Worte, nur einzeln 
zu verstehen; und zuweilen fällt die Orgel mit kurzem Akkord 
ein. Unfern auf den Emporkirchen respondiert man zuweilen. 
Allmählich, und zwar bald, füllt es sich vor und hinter mir und 
um mich her. Beide Geschlechter in buntem Gemisch; vor⸗ 
nehmlich jedoch von der dienenden Klasse. Etliche machen sich 
Platz, haben eigene Lichter und lesen in ihrem Gebetbuch. Mir
	        
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