Volltext: Der Völkerkrieg Band 2 (2 / 1915)

Die Flüchtlinge 
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darstellt. Auf einem großen Bilde sieht man das Innere einer Kirche, in der betrunkene 
Deutsche, mit dem Ornat der Priester bekleidet, den Kelch in der einen und die Wein 
stasche in der andern Hand und den Helm auf dem Kopfe die heiligen Handlungen 
nachäffen, während andere Soldaten weinende belgische Frauen mit dem Gewehrkolben 
aus der Kirche hinausstoßen. Dazu entsprechende Unterschriften in flämischer, französi 
scher und englischer Sprache." 
Wenn man solche Einzelheiten hört, versteht man auf einmal auch die wahnsinnige 
Angst der Flüchtlinge vor der Heimkehr. Der zurückgebliebenen Bevölkerung 
mußte ebensoviel wie der deutschen Besatzung daran liegen, daß Handel und Wandel 
in der eroberten Stadt wie im übrigen Land bald wieder ins gewohnte Geleise kamen. 
Schon am zweiten Tage der Besetzung Antwerpens führten deutsche Soldaten Flöße und 
Fähren ans linke Scheldeufer, dorthin, wo das Land Antwerpen an holländisches Gebiet 
angrenzt. Die Männer, Frauen und Kinder, die sich hierhin vor den deutschen Granaten 
geflüchtet hatten, wurden ermuntert und ihnen die Versicherung gegeben, daß ihr Leben 
nicht mehr in Gefahr sei. Immerhin gelang es, auf diesem Weg wenigstens einen 
kleinen Teil der Flüchtlinge und verschiedene Trupps belgischer Gefangener übers Wasser 
zu bringen. Auch der belgische Abgeordnete Dr. Franck, der übrigens auf dem Gebiet des 
Seerechts einen internationalen Ruf besitzt und deutsche Wissenschaft und Kultur hochschätzt, 
hat sein Möglichstes getan, um durch Erklärungen in der Oeffentlichkeit die Ausreißer 
zur Heimkehr zu bewegen*). Der Rechtsanwalt Le Clereq, der juristische Beirat der 
Stadt Antwerpen, ging in eigener Person nach Roosendaal und hielt vor den Flücht 
lingen eine beruhigende und aufmunternde Ansprache. Durch alle diese Bemühungen 
ließen sich zunächst aber nur einige Tausende zur Rückkehr bestimmen. 
Die belgischen Flüchtlinge wurden allmählich eine Art Landplage für Hol 
lland. Ein Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung" schreibt unter dem 18. Oktober: 
„Nach einer holländischen Schätzung beträgt die Anzahl der belgischen Flüchtlinge in 
Holland jetzt anderthalb Millionen, wovon die eine Hälfte aus Antwerpen und Um 
gebung, die andere Hälfte von Uebertritten aus anderen Gebieten herrührt. Dieser 
.Unmenge Notleidender vermag Holland schon jetzt kaum Unterkunft und Nahrung dar 
zubieten, jedenfalls aber nicht noch längere Zeit, ohne daß aus der bereits vorhandenen 
Kalamität geradezu eine Katastrophe wird. Selbst die wirklich großartige Opferwilligkeit, 
die die holländische Bevölkerung aller Stände an den Tag legt, vermag dagegen nicht 
standzuhalten. Zwischen dem deutschen Militär und den holländischen Grenzbehörden 
sind nun Abmachungen getroffen worden, um die schleunigste Rückwanderung der geflüch 
teten Zivilbevölkerung zu erleichtern. Aber die Mehrzahl der in Holland befindlichen 
Flüchtlinge wehrt sich mit allen Kräften gegen die Rückkehr, und nicht bloß die aus 
Antwerpen Entwichenen, sondern auch solche aus anderen Okkupationsgebieten. Obgleich 
ihnen ihre eigenen Gemeindevertreter, die deswegen nach Holland kamen, zureden und 
obgleich die holländischen Regierungsvertreter aufs bestimmteste in öffentlichen Bekannt 
machungen versichern, daß die deutschen Militärbehörden sich verpflichtet haben, den 
Zurückkehrenden nichts zuleide zu tun, erklären die Belgier, lieber im gastfreien Holland 
leben oder sterben, als sich freiwillig in deutsche Gewalt begeben zu wollen. Auch wüßten 
sie, daß die Engländer durch Fliegerproklamationen verbreitet hätten, Antwerpen würde 
bald zurückerobert werden. Bis dahin sollten die Flüchtlinge mit der Rückkehr warten. 
Ferner machen die geflohenen Belgier den Einwand, die Deutschen nähmen alle zurück 
*) Inzwischen ist ihm und dem Senator Ryckmans, mit dem zusammen er im Namen der Stadt 
mit den Deutschen über die Kapitulation verhandelt hatte, von der nach Le Havre übergesiedelten 
belgischen Regierung der Prozeß wegen Hochverrats gemacht worden. Dr. Franck wußte sich natür 
lich mit Leichtigkeit zu rechtfertigen.
	        
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