Volltext: Der Völkerkrieg Band 2 (2 / 1915)

Englands Kriegsrüstung 
283 
für die Rekruten das Gardemaß. Diese hohen Anforderungen bedeuteten einen schweren 
Fehler und legten sich wie Meltau auf die allgemeine Stimmung. Man denke sich: 
ein Mann, erfüllt von Patriotismus, will für das Vaterland kämpfen. Sein Dorf 
oder seine guten Freunde geben ihm ein Abschiedsessen und jubeln ihm als einem Helden 
zu. Sie hoffen, bald von seinen Kriegstaten zu hören, und statt dessen kommt er schon 
am nächsten Tage mit dem beschämenden Geständnis zurück, daß er nicht tauglich be 
funden worden sei. Es fehlten ihm ein paar Millimeter am Maß oder er hatte ein paar 
schlechte Zähne oder sonst war eine Kleinigkeit nicht in Ordnung. Als Kitchener dann seine 
Anforderungen an die Rekruten immer mehr zurückschraubte, erhielt sein zweiter Ruf, der 
nach der „Million", eine jammervolle Antwort. Die vielen Zurückweisungen hatten alles 
erstickt, was etwa an kriegerischem Feuer in englischen Busen gelodert. Die unverständigen 
Prahlereien der englischen Presse, die Unterdrückung aller Nachrichten und das Gefühl der 
absoluten Sicherheit schufen eine Gleichgültigkeit und Stumpfheit, die die Regierung sehr 
beunruhigten. So hat denn die Rekrutierung trotz aller gegenteiligen Versicherungen nicht 
im entferntesten den Erfolg gehabt, den man erhoffte. Aber auch in dem angeworbenen 
Heere selbst waren die Verhältnisse höchst bedenklich. Ein Umstand zum Beispiel, über 
den die Zeitungen auch nicht das geringste verlauten lassen durften, ist die große 
Zahl der Desertionen. Ein Major, der in der Ebene von Salisbury Rekruten 
drillt, erklärte mir: „Die Dinge können gar nicht schlechter stehen. Die Leute 
desertieren wie die Fliegen." Verpflegung und Unterkunft waren völlig ungenügend; 
die strenge Zucht behagte den „freien Engländern" nicht. Aus dem Lager des Majors 
allein waren 400 Mann entwichen, und die Bestürzung der Regierung kannte damals 
keine Grenzen. Ein anderer Offizier, der eine Abteilung von 5000 kräftigen Jünglingen, 
zum großen Teil Studenten, ausbildet, meinte, nun wären bereits zwei Monate ver 
gangen, und auch nicht einer seiner Leute hätte eine Uniform. Die meisten seiner Sol 
daten hätten keine Gewehre, und die wenigen, die welche hätten, müßten mit Flinten 
eines ganz veralteten Systems eingeübt werden. „Viele Desertionen sind bei dem Regi 
ment vorgekommen, aber noch schlimmer ist die Verschwendung, die mit Offizierspatenten 
getrieben wird. Etwa 600 dieser jungen ungeübten Rekruten haben sich durch ihre 
Beziehungen Offizierspatente verschafft. Keiner von ihnen versteht noch ein Gewehr zu 
handhaben; keine Disziplin herrscht, und es wird noch lange dauern, bis etwas mili 
tärischer Geist in sie hineinkommt." Disziplin — das ist überhaupt etwas, was dem 
neuen Heere Kitcheners fehlt. Man hat zum Beispiel die Ankunft der kanadischen Hilss- 
truppen bejubelt, aber keine Zeitung durfte die Tatsache mitteilen, daß von ihrer Ankunft 
am 8. Oktober bis Ende November 1914 nicht ein einziger Kanadier an die Front abgegangen 
ist. Warum? Sie sind noch nicht genügend ausgebildet, sagen die Behörden. Aber es 
ist nicht das, sondern der Mangel an jeder Disziplin. Diese kräftigen, an Freiheit ge 
wöhnten, unabhängigen Söhne eines freien Landes wollen sich nichts sagen lassen. 
Die Beobachtungen des Amerikaners werden von dem sonst sehr englandfreundlichen 
Londoner Berichterstatter der norwegischen Zeitung „Verdensgang" bestätigt. Er schreibt: 
„Die Meldungen zum Militärdienst haben fühlbar nachgelassen. Der Engländer meldet 
sich nur dann, wenn Nachrichten von großen Verlusten und Niederlagen aus Nordfrank 
reich nach London kommen. Die augenblickliche Stille an der Front sowie die gesamte 
günstige Lage bringen dem jungen Engländer zu Hause den Glauben bei, es ginge auch 
ohne ihn. Die Hauptschuld an dem Nachlassen der Begeisterung für den Militärdienst 
trägt nach der Ansicht englischer Blätter der Fußballsport, der Tausende junge 
Männer so in Anspruch nehme, daß sie keinen Gedanken an irgend etwas anderes hätten. 
Die Zeitungen werfen dem Kriegsministerium vor, daß die Militärbehörde das Werbe 
geschäft allzu phantasielos betriebe. Die Kriegskorrespondenten in Nordfrankreich müßten
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.