Volltext: Der Völkerkrieg Band 2 (2 / 1915)

272 Frankreich während des ersten Kriegshalbjahres 
ist es nicht allein, daß die Menschenströme sich stark verdünnt haben, daß der Wagen 
verkehr weit hinter dem früheren zurückbleibt, daß man weniger Ausländer und 
mehr Militär auf den Straßen sieht — viele englische Soldaten und Offiziere und 
verhältnismäßig zahlreiche indische Offiziere. Auch das neue Feldgrau, das eigentlich 
beinahe ein ausgesprochenes Blau ist, tritt noch nicht in solchen Mengen auf, daß es 
in die Physiognomie der Straßen einen ganz neuen Zug brächte. Freilich, in ihrer 
Gesamtwirkung tragen auch diese Details zu der Veränderung bei, die dem Besucher von 
Paris jetzt sofort in die Augen springt. Er merkt, daß die Zeitungskioske gegen früher 
beinahe öde aussehen, daß ihnen die bunte Bilderpracht der vielen illustrierten Zeit 
schriften, Broschüren, Flugblätter und Reklamen abgeht. Daß die Ausrufe der 
„waroballäs des quatre saisons“, der Zeitungsverkäufer, der Obsthändlerinnen, die 
„eris äs Paris“ nicht entfernt so laut an ihr Ohr schlagen. Daß die Autobusse aus 
dem Verkehr geschwunden find; daß der „Metro", die Pariser Untergrundbahn, seinen 
Betrieb nicht unerheblich eingeschränkt hat. Daß verwundete Soldaten auf den Straßen 
flanieren, wenngleich in geringerer Zahl als in Berlin, da man größere Verwundeten 
transporte systematisch von Paris fernhält — ein Trick, auf den die Pariser gutgläubig 
hineinfallen. Daß eine Menge Zeitungen und Zeitschriften, die früher ein großes Lese 
publikum hatten, sang- und klanglos ihr Erscheinen eingestellt haben, und daß viele von 
denen, die am Leben geblieben sind, heute als zweiseitige Blätter von dürftigstem In 
halt herauskommen. Daß kaum der fünfte Teil der Theater abends die Pforten öffnet, 
daß eine überraschend große Anzahl von Cafes, Hotels und besseren Magazinen ge 
schlossen: „Perme & cause de mobilisation“ liest man über diesen Cafes und Geschäften, 
und in der Rue Favard trägt diese Aufschrift sogar ein Haus, dessen Nummer von 
rotem Licht umstrahlt ist... Aber eigentümlich: alle diese Aenderungen, die man greifen, 
die man aufzählen kann, bringen dem Besucher die große Aenderung nicht so klar, so 
eindringlich zum Bewußtsein, wie das starke, midefinierbare Gefühl, daß die Boulevards 
ganz anders auf unsere Sinne einwirken, wie zuvor. Jetzt steht man erst, daß die 
Häuser altersgrau, die Platanen und Akazien verkümmert, die Frauen, auch die ele 
ganten, doch allzustark geschminkt sind, daß zu viel Bettler und Höker sich da herum 
treiben ... Das Parfüm, der Rhythmus des Boulevards, jene Atmosphäre von Liebens 
würdigkeit, von Geschmeidigkeit, von weltmännischer Sicherheit ist beim Teufel. . . 
Auf den Trottoirs der Capucins, der Italiens scheint es auf einmal nur noch Zweck 
menschen zu geben, wenig gutgelaunte, wenig gesprächige Leute, wie sie in den Faubourgs 
auch nicht nüchterner sein könnten . . . Und alle zwanzig Schritte liest man: „Pour 
le benefice des Sans-Travail“ oder einen andern Aufruf zugunsten dieses oder jenes 
Oeuvre, dieser oder jener Creche, während vor einer wachsenden Zahl von Cafes die 
behördliche Schreckenskunde zu lesen ist: „On ne sert plus d’absinthe“ . . ." 
„Vom Ernst der Lage," schreibt der Schweizer Zimmerst im „Stuttgarter Neuen 
Tagblatt", „hatten die Pariser noch bis Mitte Februar keine rechte Vorstellung. Als 
zum Beispiel die ersten Flüchtlinge aus Soiffons ankamen, war man zum größten Teil 
aufs höchste überrascht, daß die Deutschen bereits diese Stadt bombardierten. Der 
Pariser findet sich eben lieber durch einige Redereien als durch ernstes Nachdenken mit 
unangenehmen Tatsachen ab. Dazu verhilst ihm seine Anpassungsfähigkeit, mit der er 
auch schwere Zeiten mit einer gewissen Gefälligkeit und einigen losen Spottworten zu 
ertragen weiß. Hinter den dunklen Häusermauern, in der Not des Vaterlandes, im 
Elend und in der Trauer, von denen Hunderttausende betroffen sind, ist das Völklein 
von Paris im Grunde genommen sich gleich geblieben, und nichts kennzeichnet so sehr 
den Geist der Bevölkerung, als die Aufschrift an einem Cafe der Boulevards, die 
lautet: „Deut va bien!“ — alles geht gut!"
	        
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