Volltext: Der Völkerkrieg Band 2 (2 / 1915)

46 Die österreichisch-ungarische Monarchie während des ersten Kriegshalbjahres 
und das noch dadurch verstärkt wird, daß es sich in Oesterreich-Ungarn eigentlich um 
einen Staat von Staaten, um ein Volk von Völkern handelt. 
Die Habsburger Monarchie vermied seit mehr als einem Jahrhundert jeglichen Er 
oberungskrieg. Zum letzten Male griff Kaiser Josef II. nach fremdem Lande; er ließ sich 
zu seinem eigenen Unheile von Rußlands philosophischer Kaiserin zum Kampfe gegen 
die Türkei verleiten. Seither griff Oesterreich-Ungarn bloß dann zum Schwerte, wenn 
es seinen eigenen Besitz oder seine althergebrachte Stellung in der Welt zu verteidigen 
hatte. Wohl dachte man zur Zeit des Krimkrieges daran, das heutige Rumänien dauernd 
an die Erbländer anzuschließen; doch als die kaiserlichen Heere die Grenzen überschritten, 
geschah dies lediglich zu dem Zwecke, Rußland eine Paroli zu bieten. Und das Zaren 
reich gab wieder unmittelbar den Anstoß zur Besetzung Bosniens und der Herzegowina» 
ebenso wie es die Annexion dieser Provinzen in feierlichen Verträgen und in verbind 
lichen Unterredungen zugestanden hat. Nicht vergessen darf auch werden, daß Englands 
berühmter Staatsmann Lord Salisbury auf dem Berliner Kongresse den Antrag stellte» 
Oesterreich-Ungarn mit dem „europäischen Mandate" zu betrauen. 
Die Habsburger Monarchie war also ein Hort des Friedens. Sie hatte mit sich selbst 
genug zu tun und brauchte Zeit und Muße, um — ein Europa im Kleinen — sich all 
mählich ein wohlgeratenes Heim zu schaffen. Auch der Krieg, der jetzt einen ganzen Welt 
teil in Mitleidenschaft zieht, wurde weder in Oesterreich noch in Ungarn herbeigewünscht. 
Kaiser Franz Josef durfte in seinem Manifeste an die Völker mit vollem Rechte sagen» 
daß er sein Alter mit frohen Werken des Friedens schmücken wollte. Die bösen Nach 
barn aber, die Neider und Hasser in St. Petersburg, haben ihren Zerstörungstricb nicht 
meistern können, ihre wilde Vernichtungsgier nicht zu zügeln vermocht. Das Schicksal 
hat der Habsburger Monarchie den Krieg aufgezwungen, zugleich aber auch die Möglich 
keit gegeben, sich in diesem schweren Ringen um die Existenz, um die Erhaltung der Kul 
turgüter, um die Freiheit und um die Aussicht auf eine freudvolle Zukunft selbst zu ver 
jüngen und selbst zu finden. 
Was von dem russischen Zarismus zu erwarten wäre, das verspürt jeder. Rief der 
Tscheche Havlicek vor vielen Jahrzehnten aus: „Besser die russische Knute als die deutsche 
Freiheit!", so mußte auch er zur Erkenntnis gelangen, wie wenig lockend die Moskowiter 
Art ist. Und Palackh genas von seiner Russenliebe, als er tiefer in die russischen Verhält 
nisse hineinzublicken Gelegenheit fand. Niemand, der Oesterreich-Ungarns reine und 
freie Luft atmet, kann die Herrschaft der Kosaken, der Popen und der Wundermänner 
als einen erträglichen Zustand ansehen. Die Kraft des slawischen Zusammengehörig 
keitsgefühles mußte deshalb in dem Augenblicke aufhören, in dem es zwischen der öster 
reichisch-ungarischen Kultur und dem nordischen Despotismus ernstlich zu wählen galt 
und die Gefahr, in die die Habsburgermonarchie geraten war, machte aus den ver 
schieden sprechenden Bürgern gleichempfindende Patrioten. 
Der russische Chauvinismus duldet keine fremde Wesensbetätigung, kein anderes 
Volkstum neben sich. Die Habsburger Monarchie jedoch hat ihren elf Nationen Heim 
stätten bereitet, in denen es sich immerhin annehmbar wohnen läßt. Wenn für die ein 
zelnen Völker nicht mehr geschehen konnte, wen traf die Schuld? Im letzten und tiefsten 
Grunde immer den Zarismus. Durch Einschüchterungen aller Art war er stets bemüht, 
Oesterreich-Ungarn an der vollen, restlosen Verständigung mit seinen Völkern zu hin 
dern. Als Kaiser Franz Josef einmal nach Galizien reisen wollte, um dieses weite Land 
mit eigenen Augen zu durchforschen, gab man in St. Petersburg Zeichen des Unwillens. 
Für eine lange Frist unterblieb die Reise. Nichts hat die Spannung zwischen den beiden 
Mächten so sehr verschärft wie die besiere Behandlung, die den Ruthenen in der letzten 
Zeit durch Oesterreichs Staatsmänner zu teil ward. Der polnisch-ruthenische Ausgleich
	        
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