Volltext: Der Völkerkrieg Band 2 (2 / 1915)

30 Das deutsche Reich während des ersten Kriegshalbjahres 
Drückend lastete die Frucht auf den Feldern. Drückend lag der heiße hohe Himmel 
auf dem verlassenen Land. Zwei, drei, vier Tage... Was soll aus der Ernte werden? 
Siehe, da kamen sie herbeigeströmt von allen Seiten die neuen Arme, die neuen 
Kräfte, die Helfer. Was für merkwürdige Erntearbeiter! Gesichter wie Milch und Blut, 
fünfzehn-, sechzehnjährig, mit Schillerkragen, mit Schülermützen. Da strömten sie herbei 
aus den Fabriken, aus den grauen, engen, hohen Höfen, die Arbeiter der Großstadt mit 
den eckigen, asketischen Gesichtern, die Antiagrarier, die Hasser der Schollensitzenden, als 
Erntehelfer, als Helfer in der Not. 
Alle kamen, die ungewohnte, schwere, harte Arbeit der Scholle zu verrichten, diese 
schwere harte Arbeit, in der doch der ganze wunderbare Segen des Himmels atmet, mit 
der tauenden Sanftheit des Morgensterns und der zitternden Glut der hohen Sonne, 
mit der strömenden Luft und dem Schauen in schimmernde Fernen, dieser Segen des 
Himmels, den keine Schulstube mit all chrer Weisheit zu spenden vermag und keine 
Werkstatt hämmernder Eisenhirne. 
Hoch auf dem Wagen steht ein Sekundaner, sechzehnjährig, ein Knabe. Heiß liegt das 
Haar um seiner Stirn, das Hemd ist geöffnet, hoch atmet die Brust. Mit dem leichten 
Erröten noch scheuer Kraft Preßt er die Glieder um die Garbe, die ein paar blanke 
Arme chm auf der Gabel emporreichen, mit dem ganzen Andrang seines jungen Blutes 
umfängt er sie, wie eine Geliebte, und drückt sie tief in das schwellende Fuder. Garbe 
um Garbe, in diesem wundervollen, einfach großen, epischen Rhythmus. Wie aus Ver 
sen des Homer, wie aus der wunderbaren biblischen Novelle von der Magd des Boas 
seltsam in sein Blut gedrungen. 
Und die Arbeiter aus den Großstadtfabriken, wie benommen standen sie zuerst, in 
dieser Luft, in dieser Sonne, wenn sie mit ihren zu Maschinen dressierten Armen in den 
freien, ganz elementaren, primitiven Rhythmus griffen, wenn sie die Schwaden faßten 
und den Zugstier regierten. Nun wurden chre Gesichter braun, ihre Augen weit, und 
tief atmen sie den ungewohnten Geruch der reifen Erde, wenn sie den durchsonnten 
Schweiß von der Stirn wischen. 
Wagen um Wagen schwankten auf den Hof. Die Mägde fingen wieder an zu schwatzen, 
wenn's auch mit dem Lachen und Singen nicht recht gehen will. Aber blaue Rade, Maß 
lieb und Vergißmeinnicht haben sie am Wegrand gepflückt. 
Der letzte Halm ist herein. An der Erntekrone wehen diesmal schwarz-weiß-rote 
Fahnen. „Nun geht das Dreschen los!" Mit Kreide haben sie's beim Schmied, wo noch 
mit der Hand gedroschen wird, an die Scheune geschrieben. Und darunter eine in herz 
lichsten Worten gehaltene Einladung an Zar Nikolaus, an diesem Dreschfest teilzu 
nehmen, „als passives Mitglied des Vereins deutscher Drescher." 
Die Erntearbeiter des Jahres 1914, die Sechzehnjährigen mit den Schülermützen und 
die Großstadtarbeiter aus den Fabriken. 
Auf der breiten Veranda sitzt die Gutsherrin. Ruhig und aufrecht sitzt sie da. Zwei 
Söhne haben bei Lüttich gestürmt. Nun ist auch der dritte fort; nachdem er heiter und 
gelassen noch den Erntekuchen verspeist, bis auf die Krume. Die letzten Rosen, die roten 
Dahlien und Malven stehen noch unverwelkt auf dem Tisch. 
Ruhig und aufrecht sitzt sie in der Abendsonne. Ihre Augen gehen auf den Hof, wo 
bei den vollen Scheunen die leeren Wagen stehen. Plaudernd sitzt es nach dem Abend 
essen zusammen, sechzehnjähriges Blut mit den Sekundanermützen, ältere Fabrikarbeiter 
aus den Gewerkschaften und Mägde, die einen Erntekranz winden. 
Ueber sie hin geht der Blick der Frau, der Mutter. Wie lange noch, dann müssen auch 
diese fort. Auf ihrem Schoß liegt ein kleines schmales Buch. Gedichte des Clemens 
Brentano. Das Lied vom Schnitter Tod ist aufgeschlagen...
	        
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