Volltext: Der Völkerkrieg Band 1 (1 / 1914)

76 Rußland in der Zeit der ostpreußischen und galizischen Kämpfe 
England sei es tatsächlich von Vorteil, den Krieg lange auszudehnen, denn je länger 
der Krieg daure, desto mehr würden alle Kontinentalmächte geschwächt werden. Frank 
reich und Rußland müßten ihren Waffengefährten um jeden Preis von dieser für ihn 
sehr vorteilhaften, für die beiden andern Bundesgenossen aber sehr unvorteilhaften §16= 
sicht, den Krieg in die Länge zu ziehen, abbringen. Es ist bezeichnend für das Verhält 
nis zwischen den Dreiverbandsmächten, daß ein russisches Blatt es straflos wagen darf, 
seinem Mißtrauen gegen England so unzweideutig Ausdruck zu geben. 
Die Lage der Deutschen in Rußland 
Unter den falschen Meldungen leiden vielleicht am meisten die im Innern des 
Reichs, in Wologda und Orenburg, festgehaltenen Reichsdeutschen, die 
nicht die geringste Möglichkeit haben, sich über den wahren Stand der Dinge zu unter 
richten. Ihre Lage ist nicht beneidenswert, bisher aber keineswegs beunruhigend. Be 
mittelte dürfen sich selber beköstigen, die Unbemittelten, die in Schulhäusern u. dgl. ver 
hältnismäßig anständig untergebracht sind, sollen beschäftigt werden, so daß ihr Arbeits 
lohn die Lieferung einer besseren Kost ermöglichen wird. Die Zahl der deutschen Zivil 
gefangenen in Rußland ist Anfang September durch ein Abkommen zwischen der deut 
schen und der russischen Regierung erheblich vermindert worden; es wurde den beider 
seitigen Untertanen gestattet, in ihre Heimat zurückzukehren, soweit es sich nicht um 
Personen zwischen 17 und 45 Jahren, Reserveoffiziere oder Verdächtige handelte. 
Ein deutscher Buchhändler, der aus Petersburg zurückgekehrt ist, erzählt: „Im ganzen 
tut die russische Regierung jetzt — in den ersten Mobilmachungstagen war das anders 
— im Verein mit der Militärbehörde sehr viel, um Leben und Eigentum der Ausländer, 
auch der Deutschen, zu schützen. Es sind allenthalben Anschläge angebracht, welche die 
Behelligung der Ausländer streng untersagen und jeden etwa Mißhandelten oder Be 
raubten auffordern, Anzeige zu erstatten, mit der Zusage energischer Bestrafung für die 
Missetäter. Und diese Zusage wird auch prompt gehalten, Exzesse gegen Ausländer 
werden schnell und schwer bestraft. Allerdings mußten, um Aufreizungen möglichst zu 
vermeiden, alle deutschen Firmenauffchristen an den Häusern durch russische ersetzt wer 
den, auch wurde den Deuffchen nahegelegt, das Deutschsprechen in der Oeffentlichkeit 
möglichst zu vermeiden. Unvergleichlich mehr hat aber eine andere einschneidende Maß 
nahme für die Sicherheit der Fremden gewirkt: das strenge, unbedingte Verbot des 
Verkaufs von Trinkbranntwein. Wenn nun auch die ganz Unverbesserlichen sich an den 
denaturierten Brennspiritus halten — viele haben sich damit schon tödlich vergiftet —, 
so macht doch im ganzen Petersburg — und in anderen Städten ist es ebenso — den 
verblüffend ungewöhnlichen Eindruck einer gänzlich nüchternen Stadt. Während sich 
sonst allenthalben das Bild lauter, tierischer Trunkenheit bot, fehlen die Hooligans, jener 
verkommene Petersburger Mob, vordem niemand sicher war, jetzt ganz im Straßenbiw." 
(Das Schnapsverbot muß für russische Finanzverhältnisse geradezu verblüffen. Denn 
auf 110 Einwohner in den Städten und 100 in den Dörfern kommt in Rußland je eine 
kaiserlich russische Schnapsbude, eine „Kabak", deren Pächter durch Gesetz gezwungen 
sind, bei Strafe die ihm vom Fiskus vorgeschriebene Menge Schnaps „unterzubringen", 
d. h. dafür zu sorgen, daß sich der Gewinn aus dem Schnapsmonopol, der sich budget 
mäßig mit 310 Millionen Rubel — fast einer Milliarde Mark — im Staatshaushalts 
voranschlag brüstet, möglichst steigere.) 
Trotz der verhältnismäßig korrekten Behandlung der deutschen Gefangenen schürt die 
russische Regierung die D e ü t s ch e n h e tz e mit allen Mitteln. Auf Befehl des Zaren ist 
Petersburg in Petrograd umgetauft worden. Weitere Aenderungen deuffcher Städte 
namen sollen folgen. Das wegen der Plünderung der deutschen Gesandtschaft in Peters-
	        
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