Das deutsche Reich während
des dritten Kriegshalbjahres
Von August 1915 bis Februar 1916
Fortsetzung von Band VII, Seiten 1 bis 73
Die Deutschen auf dem Wege zur einigen
und freien Nation
Von Hermann Oncken
In Worten, die häufig wiederholt worden sind, und die wir heute mehr denn je als
Programm unserer Zukunft auffassen dürfen, hat Lassalle gesagt: „Der Zweck des
Staates ist nicht der, dem einzelnen nur die persönliche Freiheit und das Eigentum zu
schützen... Der Zweck des Staates ist vielmehr gerade der, durch diese Vereinigung
die einzelnen in den Stand zu setzen, solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu
erreichen, die sie als einzelne nie erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe von
Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als einzelnen unersteiglich
wäre... Der Zweck des Staates ist die Erziehung und Entwicklung des Menschen
geschlechts zur Freiheit." Von dem Boden einer solchen Staatsidee kann auch die Sozial
demokratie ihre Stellungnahme zu den deutschen Problemen der Zukunst neu orientieren.
Eine Summe von Bildung. Die Bildung des einzelnen ruht in der Bildung der
Nation, und unsere höchsten Kulturgüter werden nicht nur durch das machtvolle Ge
füge des Staates in ihrem äußern Bestände geschützt, sondern sie sind am tiefsten in
unserer nationalen Kultur verankert. Wir erleben heute, daß diese deutsche Kultur, in
ihrem ganzen Umfange und allen ihren Ausstrahlungen, von den Wellen des Hasses
und der Beschimpfung umspült, von der Oede des Nichtverstehens verkannt wird, so
daß wir, als Deutsche auch geistig aneinandergedrängt, unser innerstes Wesen dagegen
verteidigen müssen. Dabei erkennen wir vollends, daß manches gemeinsamer Besitz ist,
was einzelne Klassen und Parteien scheinbar als ihr besonderes Eigentum beanspruchen,
und wir werden gewahr, wie künstlich jene Schranken sind, die angeblich die bürger
lichen Bildungsideale von den proletarischen Bildungsidealen wie zwei Welten vonein
ander trennen. Legen wir diese Schranken für immer nieder! Jeder Denkende weiß
längst, daß Marx und Lassalle nur in dem großen Zusammenhange der idealistischen
deutschen Philosophie denkbar waren; und die Hoffnung der Zukunft mag dahin gehen,
daß zumal über die Zwischenglieder Lassalle—Fichte auch die Sozialdemokratie wieder
den Zugang zu der deutschen Philosophie und ihren Gedanken über das Wesen der
Nation und die Aufgaben des Staates gewinnen möge. Wenn heute die fremden Völker
die Organisationsfähigkeit der Deutschen bald bewundernd beneiden, bald hämisch be
kritteln, dann werden wir uns sagen, daß die historische Linie derer, die daran mit
arbeiteten, von König Friedrich Wilhelm I. bis zu Marx reicht und neben den alten
Institutionen des Heeres und Beamtentums auch die neuen Institutionen der Gewerk
schaften umfaßt. Mehr als je müssen wir unsere nationale Kultur wieder als ein
Ganzes empfinden. Das gilt für die Besitzenden, die Kultur als ihre Klassenangelegen
heit ansahen und, erfüllt von den engen Vorurteilen, die der sorglosen und eigennützigen
Art des Besitzes anhaften, sich ganze Welten geistiger Arbeit verschlossen, die auf dem
selben nationalen Boden erwachsen waren; das gilt nicht minder für diejenigen, die
Bölkerkrieg. XII. 1