Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

178 Die Ereignisse an der Ostfront nach der Wiedereroberung von Przemysl 
Darauf fuhr der Oberbefehlshaber nach dem alten polnischen Königsschloß Belvedere, 
wo er Quartier bezog und eine Abordnung von Magistratsmitgliedern empfing, die ge 
kommen waren, um ihm die Ergebenheit der Stadt zum Ausdruck zu bringen. 
* * * 
Mit der Einnahme von Warschau schließt die dritte Woche der großen Offensive der 
Verbündeten auf das westrussische Festungssystem. Eine der stärksten Festungen, die 
drittgrößte Stadt des Zarenreichs, eine der größten Städte und eins der wichtigsten 
Kultur- und Handelszentren Europas war in die Hände der Verbündeten gefallen. 
Um den überwältigenden Eindruck dieser Tatsache abzuschwächen und der Nieder 
geschlagenheit weiter Kreise in Rußland selbst, wie in Frankreich, England und Italien 
aufzuhelfen, sind in den Ländern der Entente und in den neutralen Staaten aus „auto 
risierter russischer Quelle" Mitteilungen verbreitet worden, die den Fall Warschaus 
als eine Episode in dem durch die Uebermacht der Verbündeten erzwungenen vor 
läufigen Rückzug darzustellen versuchten. So wurde z. B. der „Neuen Zürcher Zeitung" 
geschrieben: „Die Besetzung einer Stadt, ja eines ganzen Gebietes während des Krieges 
hat nur eine nebensächliche Bedeutung, denn nur die Schlacht, der Anprall zweier Armeen 
aufeinander, entscheidet; deshalb will Rußland, entschlossen, den endgültigen Sieg zu 
erzwingen, seine Armee unerschüttert erhalten und nur unter den vorteilhaftesten Bedin 
gungen zum Kampfe führen. Solche natürlichen Bedingungen fehlen aber in Polen, das 
keilförmig in fremdes Gebiet eintritt, und das daher von jeher den schwächsten Punkt der 
russischen Westgrenze bildete. Es ist somit selbstverständlich, daß sich die russischen Ar 
meen ins Innere des Landes zurückziehen müssen, woselbst sie sich aus eine mächtige 
Festungslinie stützen können. Das wichtigste jedoch in allen diesen Betrachtungen bleibt, 
daß Rußland über eine schlechthin unerschöpfliche Fülle natürlicher Hilfsmittel verfügt. 
Die Unermeßlichkeit seiner Ausdehnung gestattet dem Reiche, zeitweilige Verluste selbst 
ganzer Provinzen zu ertragen, ohne dadurch als Ganzes im geringsten erschüttert zu 
werden. Erst jetzt beginnt das Riesenreich seine Kräfte voll zu entfalten, während seine 
Gegner, wie es scheint, ihre Maximalanstrengungen gemacht haben." 
Einsichtige Neutrale, so H. Stegemann im Berner „Bund" (vgl. S. 19) waren aller 
dings anderer Ansicht und betonten immer wieder, daß der Fall Warschaus für das 
russische Prestige unendlich viel schlimmer war als die Wiedereroberung Lembergs. Er 
bildete einen der Marksteine des ganzen Feldzugs, er war, wie das „Berliner Tageblatt" 
betonte, eine Tat getan im Dienste westeuropäischer Gesittung, obwohl alte und stolze 
Kulturvölker wie Franzosen und Engländer sich zu Helfern der besiegten Russenherrschaft 
gemacht haben. Deutsche bewachen nun wieder die Schwelle, über die der Panslawis 
mus in den Westen einzubrechen gedachte, haben die Heere des Zaren ins eigentliche 
Rußland zurückgetrieben." 
Einen tiefen Eindruck hat die Vertreibung der Russen aus der polnischen Hauptstadt 
vor allem auf alle Polen gemacht. „Die Besetzung von Warschau", schreibt das „Wiener 
Fremdenblatt", „ist das größte politische Ereignis, das der Krieg bis jetzt gebracht 
hat. Denn das Schicksal eines ganzen Volkes wird durch die Einnahme der Haupt 
stadt Polens gewandelt. Für Polen beginnt eine neue Zeit: zum ersten Male kann es 
wieder frei aufatmen und hoffen, zum ersten Male sieht es die Möglichkeit eines Daseins 
vor sich, das ihm die Entfaltung seiner nationalen und gesellschaftlichen Kräfte gestattet. 
Die Heere Oesterreich-Ungarns und des Deutschen Reiches, welche die russische Macht 
in Polen zertrümmert haben, schließen ihm eine bessere Zukunft aus und stärken ihm 
den Mut. Rußland hat über die ihm historisch, geographisch und kulturell vorgezeichnete 
Sphäre hinausgegriffen, als es sich des Weichsellandes bemächtigte, und nur die Gerechtigkeit 
wird sich vollziehen, wenn es aufgeben muß, was ihm innerlich nicht zugehören kann."
	        
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