Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

294 Frankreich während des dritten Kriegshalbjahres 
Alexandre Millerand, 1859 in Paris geboren und seit 1882 Sekretär der Anwaltskammer 
in Paris, erreichte durch seine äußerst radikalen Reden, daß er 1884, kaum 25jährig, zum Stadtrat 
von Paris gewählt wurde. Bei den Deputierten-Wahlen 1885 gelangte er in die Kammer, wo er 
sich der äußersten Linken anschloß, im Kampf gegen den Boulangismus einer der heftigsten Ankläger 
wurde und als Chefredakteur der von ihm begründeten „Voix" unerhörte Angriffe gegen die Klerikalen 
und Monarchisten schleuderte. Im Vertrauen auf seine Popularität gründete Millerand darauf die 
„Union sozialiste" und wurde das Haupt der sozialistischen Linken, die sich aus den verschiedenen 
Fraktionsgruppen der bisherigen Linken zusammensetzte. Das Organ dieser Partei wurde „La Petite 
Rspublique", deren Chefredakteur er bis 1896 blieb. 
Dann vollzog sich ein — wenn auch nicht jäher — so doch immerhin bemerkenswerter Umschwung 
in seinem Verhältnis zur sozialistischen Partei und zum parlamentarischen Leben überhaupt. Im 
Juni 1899 übernahm er im Kabinett Waldeck-Rouffeau das Handelsministerium, das er bis 1902 
innehatte. Als Minister zeigte er plötzlich eine so große Mäßigung, daß er sich schwere An 
feindungen der extremen Sozialisten zuzog, die sogar seinen Ausschluß aus der Partei beantragten. 
Doch lehnte der sozialistische Parteikongreß in Bordeaux am 14. April 1903 den Ausschluß Millerands 
ab. Ein seltsamer Zufall wollte es, daß bei der Debatte über die Unruhen in Chalon-sur-Saöne 
am 14. Juni desselben Jahres Millerand und seine Parteigenossen für eine Tagesordnung stimmten, 
die besagte, daß die Kammer die kollektivistischen Doktrinen, durch die man die Arbeiter verführt, 
verwirft. Also verwarf Millerand sein eigenes früheres Programm. Trotzdem lehnte auch der all 
gemeine französische Sozialistenkongreß in Lyon ab, Millerand aus der Partei auszuschließen, weil er 
einen Ministerposten in einem bürgerlichen Kabinett angenommen habe. 
Auch nach seiner ersten Ministertätigkeit blieb Millerand Führer der Sozialisten und trat im Juli 
1909 als Minister für Verkehr, Post und Telegraphen in das Kabinett Briand ein, mit dem er am 
2. November 1910 seine Demission gab. Briand ließ bei der Neubildung seines Kabinetts am nächsten 
Tage Millerand, der für das Streikrecht der Staatsbeamten eingetreten war, fallen. Doch schon im 
nächsten Jahre übernahm Millerand im Kabinett Poincaro das Kriegsportefeuille. 
Ueber Millerands Tätigkeit als Kriegsminister schrieb Major a. D. E. Moraht im „Berliner Tage 
blatt" (31. X. 1915): „In demselben Geschäftszimmer auf denselben Sessel, wo einst der alte Galliffet, 
der Kommunardentöter gethront hatte, setzte sich der erste sozialistische Minister der Republik und 
wurde zum Haupt des Heeres. Bei uns und anderswo zuckte man die Achseln, aber bald erkannte 
man einen Mann, der wußte, was er wollte, und der weit davon entfernt war, radikale oder sozia 
listische Ansichten im Heere zu pflegen. Aber Millerand war nicht allein merkwürdig, er bedeutete 
damals auch einen Erfolg für Frankreich. Einzelheiten müssen hier aus Raummangel fortbleiben 
Ich will nur kurz an die Beseitigung der würdelosen Ueberwachung der Offiziere erinnern, welche 
der Vorgänger Millerands, Messimy, gutgeheißen hatte, nachdem sie vom General Andre ins Leben 
gerufen war. Millerand erwarb sich das Vertrauen der Armee und begann dann, die Armee volks 
tümlich zu machen. Unter ihm lebten die Zapfenstreiche wieder auf und nährten den erwachenden 
Chauvinismus. Rege Tätigkeit in allen Verwaltungszweigen, aber auch eine gewisse Unruhe und 
Ueberhast kennzeichneten die erste Wirkungszeit Millerands als Kriegsminister. In allen Zweigen der 
Verwaltung, zum Beispiel in der Uniformfrage, schloß sich ein Versuch an den anderen. Aber auch 
der Schlagfertigkeit der Armee suchte er fortgesetzt eine festere Grundlage zu geben. Seine Erlasse 
und Anregungen dienten dem großen Gedanken, ein Negerheer gegen Deutschland zu führen. Mit 
großer Energie faßte Millerand die brüchige Disziplin im Heere an und dämpfte die Wirkung der 
Agitation gegen den Militarismus. Die Krönung der Wirksamkeit Millerands liegt jedoch in der Sank 
tionierung des großen Kadergesetzes, das den Rahmen darbot, in welchem die jetzige französische Armee 
gegen Deutschland kämpft." 
Aristide Briand, der neue französische Ministerpräsident hat, wie dem „Schwäbischen Merkur" 
(31. X. 1915) geschrieben wurde, diesen Posten schon einmal, und zwar von 1909 bis 1911 bekleidet. 
Seine Ernennung war ein Ereignis; war er doch, damals noch revolutionärer Sozialist, der „erste 
sozialistische Premierminister Europas". Er hat jedoch die Hoffnungen seiner roten Genossen schwer 
enttäuscht. Als 1910 der große Streik der Eisenbahner und Postbeamten ausbrach, erwies sich der 
zur Macht Gelangte unter Verleugnung aller seiner bisherigen Grundsätze als schärfster Gegner des 
Generalstreiks. Er berief einen Teil der Streikenden unter Hinweis auf ihre Militärpflicht zum 
Heere ein und zwang sie auf diese Weise zur Arbeit. Die Verwendung militärischer Machtmittel
	        
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